Schieber
Position. MacDonald atmet durch und fährt sich mit der Hand
unter den Hemdkragen.
»Meinen Sie, ich kann mir jetzt das Jackett ausziehen?«
»Sie sollten sich an die Hitze gewöhnen. In Palästina ist es auch
ziemlich heiß.«
Der Lieutenant wirft ihm einen schiefen Blick zu. »Ich werde Sie als
Berater mitnehmen.«
»Ein deutscher Polizist im Heiligen Land. Das ist genau das, was
sich die Juden jetzt wünschen.«
»Schön, wenn man Freunden einen Gefallen tun kann.«
MacDonald hält überrascht inne. »Glocken!«, ruft er.
Auf einer großen, freien Fläche am Kai glänzen Glocken in der
Morgensonne, manche klein wie Flaschen, andere mannshoch, einige zerbeult,
gesprungen, auf der Seite liegend wie weggeworfenes Gigantenspielzeug. Andere
ruhen makellos auf hölzernen Balken, als kämen sie gerade aus der Gießerei.
Kreuze, Wappen, Figurenreliefs sind in den Außenflächen eingelassen, dazu
Heiligennamen, deutsche, französische, polnische, dänische Worte.
»Der Glockenfriedhof«, sagt Stave. »Wir gehen zwischen den Dingern
hindurch, da kann man uns nicht so leicht sehen.«
»In welchen Kirchen hingen diese Glocken?«
Der Oberinspektor macht eine vage Geste zum Horizont. Ȇberall in
Europa. Vielleicht stehen viele auch nicht mehr. Die Nazis haben im Krieg in
allen Kirchen die Glocken abgehängt, zuerst im Reich, dann in allen besetzten
Ländern. Kriegswichtiges Material.«
MacDonald blickt sich um. »Das mit dem Einschmelzen scheint nicht
funktioniert zu haben.«
»Im Gegenteil: Sie haben die Glocken in Hamburg gesammelt, die
meisten kamen per Schiff. Sollen 75.000 gewesen sein.«
»Das hier am Kai sind aber keine 75.000.«
»Das ist nur der Rest. 8000 Glocken, sagt man. Die anderen sind
jetzt Teile von Patronenhülsen, Geschützrohren oder anderem Kriegsgerät.«
»Schrott, mit anderen Worten.«
»Diese Glocken sind zufällig übrig geblieben. Man hat sie Anfang
1945 auf eine Schute geladen, um sie aus der bedrohten Stadt zu schaffen. Da
kam einer Ihrer Flieger.«
»Lassen Sie mich raten: Volltreffer.«
»Direkt im Kuhwerder Hafen. Eine Hamburger Bergungsmannschaft hat
die Glocken schon kurz nach Mai 1945 wieder gehoben. Jetzt warten sie hier, bis
man sie irgendwann in ihre alten Kirchen hängt. Falls diese Kirchen noch
stehen. Und falls die Länder es irgendwie schaffen, den Transport zu
organisieren.«
»Klingt so, als könnte man damit Geld verdienen.«
»Da verdienen sicher einige Herren eine Menge Geld mit. Vielleicht
dieselben, die diese Glocken vorher demontiert haben.«
»Es sind ja Fachleute.«
»Da vorne ist das Tor zur Werft«, brummt Stave, als sie den
Glockenfriedhof durchschritten haben. »Den einfacheren Teil unserer Aktion
haben wir geschafft.«
Ein Maschendrahtzaun mit einem Tor, davor zwei gelangweilte
englische Militärpolizisten. Sperrgebiet. Hätten sie die richtige Barkasse
genommen, wären sie wenigstens auf dem Werftgelände gelandet. Dort stehen auch
Posten, aber in der Menge der heranströmenden Arbeiter werden sie nicht jeden
persönlich kontrollieren können. Von der Landseite jedoch wandern nur ein paar
Gestalten Richtung Blohm & Voss – Männer, die auf dem südlichen Elbufer
leben oder die es vorziehen, zu Fuß durch den langen Elbtunnel zu marschieren
und anschließend vom Tunnelaufgang bis zur Werft zu gelangen. Vor dem Tor, am rechten
Wegrand, steht eine Kaffeeklappe, eine Baracke, in der Ersatzkaffee und dünn
belegte Brötchen verkauft werden. Manche Arbeiter kehren hier ein, mit
abgezählten Reichsmarkscheinen in den Händen, damit es schneller geht.
Der Oberinspektor fragt sich wieder einmal, wie Adolf Winkelmann in
das Sperrgebiet eindringen konnte: mit der Barkasse? Dann wäre er an den
Engländern möglicherweise vorbeigeschlüpft – aber wäre ein Halbwüchsiger nicht
den Arbeitern aufgefallen, da bei Blohm & Voss keine Jungen mehr angestellt
werden? Keiner will Adolf Winkelmann je gesehen haben, zumindest hat niemand
dem Polizeifotografen Kienle, als der mit dem Bild des Jungen herumging, einen
Hinweis gegeben. Er kam von der Landseite, vermutet der Kripobeamte, durch den
Elbtunnel, dann irgendwo zwischen Ruinen bis zum Zaun, irgendeine Stelle, die
von den Posten und den Besuchern der Kaffeeklappe schlecht einzusehen ist, wo
er den Draht zerschnitten hat und ungesehen hineinschlüpft. Er fragt sich, ob
MacDonald und er sich einen ähnlichen Weg suchen müssen.
Der Brite errät seine Gedanken, zieht zwei Papiere aus seiner
Jacketttasche. »Wir
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