Schieber
Karl-Muck-Platz, und Stave lässt
den schweren Wagen ausrollen. Blubbernd erstirbt der Motor. Der Oberinspektor
wendet sich zur Rückbank, wo sich die rotgesichtigen Schupos drängen.
»Endstation«, ruft er.
»Hoffentlich gilt das nicht für unsere Ermittlungen«, erwidert
Kienle und öffnet die Beifahrertür.
Eine trauernde Familie
Als Stave das Vorzimmer zu seinem Büro im sechsten Stock
betritt, blickt seine Sekretärin erschrocken auf. Sie hat Zeitung gelesen, das
gelbliche Papier des Blattes bedeckt die Schreibmaschine wie eine verknitterte
Plane.
»Herr Oberinspektor, können Sie sich nicht Schuhe mit quietschenden
Gummisohlen besorgen?«
»Ich binde mir eine Kuhglocke ans Bein.« Er lächelt Erna Berg an:
blond, unbesiegbar optimistisch und noch etwas molliger als früher. Sie ist
schwanger, vierter oder fünfter Monat, schätzt der Kripo-Mann, auch wenn er in
derartigen Vermutungen nicht gerade routiniert ist. Ist fast zwanzig Jahre her,
dass Margarethe mit ihrem einzigen Kind schwanger war. Inzwischen ist Karl ein
Phantom in Sibirien und Margarethes Asche ruht auf dem Öjendorfer Friedhof. Die
Zeit, da sie und er jung waren und auf ein Baby warteten, scheint ihm so
versunken zu sein wie die Epoche der Römischen Kaiser.
»Haben Sie schon einen Passierschein?«, fragt er und deutet auf
ihren Babybauch. Zwischen Mitternacht und 4.30 Uhr herrscht Ausgangssperre.
»Wenn Ihre Wehen nachts einsetzen, müssen Sie diesen Lappen haben, damit die
Militärpolizei Sie nicht festnimmt. Wäre schade, wenn das Kind in einer
britischen Zelle zur Welt käme.«
Sie lacht. »Anträge auf Sondergenehmigungen, Rathaus, Zimmer 306 –
ich habe mich schon erkundigt. Aber es bleibt noch Zeit.«
»Die werden Sie in den nächsten Tagen kaum genießen, fürchte ich.
Haben Sie schon von dem Fall gehört?«, fragt Stave – nur eine Geste der
Höflichkeit, denn selbstverständlich hat sich Erna Berg längst umgehört.
Flurfunk. Manchmal denkt er, dass sie besser informiert ist als er. Vielleicht
sollte ich auch einfach im Büro hocken, ab und zu zur Kaffeeküche oder zum
Waschraum gehen, mit Kollegen ein Schwätzchen halten. Den Indizien nicht
hinterherhetzen, sondern warten, bis die Indizien zu mir kommen.
»Ein Junge auf einer Bombe. James hat mich angerufen und es mir
erzählt.«
Der Liebhaber seiner Sekretärin und Vater des Kindes: Lieutenant
James C. MacDonald von den Besatzungstruppen. Keine schlechte Partie für eine
Sekretärin im zertrümmerten Hamburg – wenn sie nicht schon verheiratet wäre,
ein Kind hätte und der tot geglaubte Mann vor einigen Wochen plötzlich aus der
Kriegsgefangenschaft heimgekommen wäre.
Seit er mit MacDonald am Fall des Trümmermörders gearbeitet hat, ist
er unfreiwilliger Zeuge ihrer komplizierten Romanze. MacDonald hat Erna Berg
eine Wohnung besorgt. Ein Scheidungsprozess droht, was hässlich werden wird –
schließlich ist die Frau eine Ehebrecherin. Geht alles mit rechten Dingen zu,
wird sie das Sorgerecht an ihrem ersten Sohn verlieren.
Obwohl Stave MacDonald in letzter Zeit nicht oft gesehen hat, meist
abends, wenn der Brite Erna Berg im Büro abholte, hat er große Sympathien für
den selbstsicheren Engländer. Und heimlich beneidet er ihn auch ein wenig um
dessen Weltläufigkeit und Lässigkeit. Zugleich sind sie beide aber auch
verlegen, als würden sie ein peinliches Geheimnis teilen. Als hätten wir beide
einmal dieselbe Geliebte gehabt, denkt Stave, dabei haben wir nur zusammen
einen SS-Mann zur Strecke gebracht. Eigentlich nichts, wofür man sich schämen
müsste.
»Ist es den Tommies peinlich, dass der Tote auf einer ihrer alten
Bomben liegt?«, fragt er.
»Nein, sie denken, dass ihre Bomben nun unser Problem sind. Es macht
sie bloß nervös, dass der Junge ausgerechnet bei Blohm & Voss gefunden
wurde.«
Stave lächelt säuerlich. »Die Demontage der Werft bereitet ihnen
schon genug Schwierigkeiten. Kann mir denken, dass ihnen das Gerede über einen
ermordeten Jungen dort nicht in den Kram passt.«
»Deshalb will James mit Ihnen sprechen. Er hat mich gebeten, ihn
anzurufen, wenn Sie vom Einsatz zurück sind.«
»Der Bitte eines Besatzungsoffiziers sollte man sich nicht
widersetzen«, entgegnet der Oberinspektor und drückt die Durchgangstür zu
seinem Büro auf. Tatsächlich ist ihm gar nicht heiter zumute. Wenn MacDonald
hier auftaucht, dann wird es Schwierigkeiten geben.
Eine halbe Stunde später klopft der Lieutenant an die Tür
und tritt mit federndem
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