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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Russen
von Alliierten zu Gegnern der Engländer werden«, fragt er, »und wenn wir
Deutschen nun bei euch mittun sollen – wird dann Stalin unsere Soldaten jemals
entlassen?«
    MacDonald starrt konzentriert durch die schmutzige
Windschutzscheibe, obwohl die Straße bei der Hitze fast menschenleer ist.
    »Uncle Joe ist nicht gerade großzügig«, antwortet er schließlich.
»Wollen Sie die Ermittlungen lieber alleine durchführen?«
    Stave seufzt. »Ob ich alleine einen Jungenmörder jage oder zusammen
mit einem englischen Lieutenant, das ist denen in Moskau wohl ziemlich
gleichgültig.«
    »Ich freue mich auf den Job«, stellt MacDonald fest und lächelt
leicht. Er gibt Gas und rast mit bockenden Achsen über den Jungfernstieg.
    Sie fahren nun am Ostufer der Alster hoch. Das Wasser glitzert zu
ihrer Linken in der Sonne. Zwei kleine Segelboote treiben mit schlaffen Segeln
auf dem See. Stave fragt sich flüchtig, ob Besatzungsoffiziere an der Pinne
sitzen oder schon wieder Hamburger.
    Die hohen, wuchtigen Gebäude am Jungfernstieg und an der
Binnenalster sind nach Jahren mangelnder Pflege etwas heruntergekommen:
bröckelnder Putz, zwei, drei Geschossnarben im Stein, ansonsten intakt. Danach
passieren sie die Villen auf der Uhlenhorst. Gründerzeit, schattige Bäume,
gedämpftes Licht, Gediegenheit.
    MacDonald wirft ihm einen raschen Blick zu. »Sieht aus, als hätte es
nie einen Krieg gegeben.«
    »Warten Sie bis zur nächsten Kreuzung«, erwidert der Oberinspektor
und deutet nach rechts. »Willkommen im Trümmerland.«
    Der Lieutenant biegt auf den Mundsburger Damm. Ein schwitzender
Schupo regelt den Verkehr, winkt sie mit trägen Bewegungen weiter. Nur drei
andere Autos rumpeln vor ihnen über das Pflaster. Gedankenverloren starrt Stave
auf das Nummernschild eines verbeulten, alten, braunen Opel Olympia, der, eine
Rauchfahne hinter sich herziehend, keuchend vor ihnen beschleunigt: HG-8734 –
»Hamburg Government«. Wir sind Teil des Empires geworden, fährt es ihm durch
den Kopf, wie Kalkutta oder Hongkong, nur mit Bombenschäden.
    Hier ist nicht mehr zu erkennen, welche Gebäude einst die Straße
säumten. Ziegelberge zu beiden Seiten, ein paar stehengebliebene Mauern,
Moniereisenmatten wie überdimensionierte Spinnennetze. Dazwischen Trümmerfrauen
und Arbeiter, die Schutt auf Karren laden. Staub in der glosenden Luft. In den
Benzingestank des asthmatischen Opels vor ihnen mischen sich die Ausdünstungen
eines riesigen Abrissareals, es riecht nach Mörtel, Sand, angemodertem Holz und
offener Kanalisation. Stave glaubt, dass ihm auch süßlicher Leichengeruch in
die Nase steigt, doch sagt er sich selbst, dass dies eine Illusion sein muss:
So stank es nach den großen Bombenangriffen, als die Leichen monatelang unter
den Ruinen verwesten. Die sind längst alle Staub und Knochen, hofft er.
    Weiter auf der Oberaltenallee, noch ein, zwei Minuten, dann tritt
MacDonald auf ein Zeichen von Stave hin so stark in die Bremsen, dass ein
Fahrradfahrer, der neben ihnen radelt, vor Schreck beinahe stürzt. Der Mann
wird rot, holt Luft, als wolle er lauthals fluchen, erkennt rechtzeitig den
Jeep und die britische Uniform. Unverständliches murmelnd fährt er davon.
    »Der wählt beim nächsten Mal die Kommunisten«, sagt MacDonald, doch
sieht er nicht so aus, als ob er das bedauern würde.
    Stave blickt auf die Polizeiwache 31: ein Relikt aus der
wilhelminischen Epoche, in der man Polizeiwachen noch baute, als seien sie
kleine Renaissanceschlösser, zumindest außen. Ein unbeschädigter Prunkbau in
einem Trümmermeer, der paradoxerweise viel älter wirkt als die 50 Jahre, die er
tatsächlich erst steht – und zugleich viel jünger, als seien hier schon alle
Ziegel zusammengeräumt und zu einem neuen Haus aufgeschichtet worden.
    »Da haben Ihre Kameraden in den Bombern wohl nicht genau genug
gezielt«, entfährt es Stave.
    »Im Gegenteil: Die Jungs wussten, dass dort Gestapohäftlinge in
oberirdischen Zellen hockten, deshalb haben sie ihre Ladung immer schön darum
herum abgeworfen.«
    Der Oberinspektor wirft dem Lieutenant einen verwunderten Blick zu.
Macht er sich lustig über ihn? Oder spricht da der Geheimagent, der mehr weiß,
als man ahnt? Er zuckt die Achseln und drückt das Eingangsportal auf.
    Linoleum, von unzähligen Handgriffen geöltes Holz. Irgendwo klappert
eine Schreibmaschine. Jazz dringt hinter der verschlossenen Tür eines Büros
hervor. Kann nicht vom NWDR kommen, denkt Stave. Die senden tagsüber

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