Schieber
Fenster.
»Draußen patrouillieren zwei Militärpolizisten«, murmelt er zur
Begrüßung.
»Das Essen im ›Sellmers‹ ist so schlecht, dass nicht einmal
Engländer hier einkehren werden«, antwortet der Lieutenant zuversichtlich. Auch
er hat grobe, dunkle Zivilkleidung an, ein Rucksack steht auf dem Stuhl neben
ihm. Allerdings trägt er helle Seglerschuhe, die sich kein Deutscher leisten
könnte. Stave sagt dazu nichts. So lange sie am Tisch sitzen, wird es
hoffentlich niemandem auffallen. Und später ist es dunkel.
»Was empfehlen Sie?«, fragt der Oberinspektor.
»Die Scholle wird Sie nicht umbringen.«
»Sie speisen öfter hier?«
»Ich mag den Kapitän.« MacDonald deutet auf ein Bild an der
gegenüberliegenden Wand: ein wettergegerbter, weißbärtiger Seemann in Ölzeug,
Pfeife im Mundwinkel, der mit energischem Blick ins Irgendwo starrt.
»Ich habe schon schlimmere Bilder gesehen«, brummt Stave, »wenn auch
nicht viele.«
Der Lieutenant lacht. »Im ›Sellmers‹ hocken die Seeleute und
unterhalten sich über ihre Möglichkeiten, wieder irgendwo anzuheuern. Und hier
treffen sich die Restaurantbesitzer und die Hausfrauen und reden über das
Essen. Einen Abend im ›Sellmers‹ und ich erfahre durch bloßes Zuhören mehr über
die Stimmung der Hamburger als durch ein Dutzend Verhöre. Meine Vorgesetzten
sind immer wieder erstaunt über meine Lageberichte.«
»Sie werden es noch weit bringen.«
»Nach Palästina, wenn ich diese Nacht keinen Erfolg habe.« MacDonald
winkt einen dürren, älteren Kellner heran, der am Nebentisch abräumt und dabei
unauffällig ein paar Tabakkrümel von der fleckigen Tischdecke in sein
Taschentuch wischt, um sie zu sammeln. »Zwei Schollen. Und zwei Bier, bitte.«
Als er Staves erstaunten Blick bemerkt, flüstert er: »Keine Sorge, Sie sind
nicht offiziell im Dienst.«
»Das ist es nicht, was mich beunruhigt. Ich habe seit Monaten keinen
Tropfen Alkohol mehr getrunken, wenn man von der Flasche Weinbrand absieht, die
wir neulich gemeinsam requiriert haben. Mit verheerenden Folgen. Ich bin außer
Übung und werde alles doppelt sehen – oder schon auf der Elbe kotzend über der
Bordwand lehnen.«
»Das Bier ist so dünn wie die Scholle.«
Eine halbe Stunde später weiß Stave, dass MacDonald nicht
übertrieben hat. Die Scholle ist schon mindestens einen Tag alt, was der Koch
dadurch zu kaschieren versucht hat, dass er sie so lange in Fett gebraten hat,
bis die Schuppen angeschwärzt waren. Das Bier schwappt schaumlos in schlierigen
Halblitergläsern.
»Ganz wie in Schottland in der guten alten Vorkriegszeit«, verkündet
der Lieutenant und hebt prostend seinen Humpen.
Der Oberinspektor, der seit 1945 niemals mehr wirklich satt geworden
ist, verzichtet auf eine sarkastische Antwort. Rasch zerlegt er die Scholle,
lutscht noch die letzte Gräte blank und spült alles mit dem Gebräu herunter,
das tatsächlich ein wenig bitter schmeckt. Dabei hat Stave die ganze Zeit das
Gefühl, dass MacDonald ihn beobachtet, erstaunt und ein wenig mitleidig – und
dass der Lieutenant nur deshalb seinen Fisch isst, um den Deutschen nicht zu
beschämen.
Manchmal denkt der Kripo-Mann schuldbewusst an Karl, der sich für
diesen Abend zum Essen angekündigt hat. Aber bis er wieder zu Hause ist – falls
er überhaupt heil nach Hause kommt –, wird er schon wieder hungrig sein und
auch diese zweite Mahlzeit verkraften. »Daran kann ich mich gewöhnen«,
verkündet Stave, als er den letzten Tropfen getrunken hat.
»Das geht auf meine Rechnung«, erwidert MacDonald und sieht sich
nach dem Kellner um. Inzwischen sind alle Tische besetzt. Der Raum wird dunkler
und dunkler, weil nur noch wenig Licht durch die Fenster fällt. Eigentlich noch
zu früh für die Dämmerung, vermutet Stave. Muss das heraufziehende Gewitter
sein. Er will dazu gerade eine Bemerkung machen, als ein Schlag von draußen die
dünnen Wände beben lässt. MacDonald fährt mit der Rechten zu seiner
Hosentasche.
»Das ist kein deutscher Panzer«, flüstert Stave hastig, »bloß der
erste Donner.«
»Hören Sie?«, flüstert der Lieutenant. Ein Trommeln und Rauschen
über ihnen. »Regen.«
Immer mehr Menschen stolpern die Treppe zum Eingang hinunter, dunkle
Wasserflecken auf den Schultern, nasses Haar, glückliche Augen. Auch Stave ist
auf eine Art erleichtert: Endlich keine braune Brühe mehr im Wasserhahn.
MacDonald stößt ihn an. »Wir verschwinden.«
»Sie wollen ausgerechnet jetzt auf die Elbe? Wollen wir
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