Schieber
Hauptbahnhof heimkehrende Kriegsgefangene bedachte, in der Hoffnung, dass
sie ihm Auskünfte geben könnten über seinen verschollenen Sohn. Er zählt in
Gedanken die Sekunden, blickt stromauf und stromab, starrt zum düsteren Block
des Trockendocks hinüber, der langsam vor ihnen in die Höhe wächst. Wellen
schlagen gegen das nassglänzende Mauerwerk. Der Oberinspektor versucht
irgendeine Bewegung dort auszumachen. Nichts. Fünf Minuten noch, schätzt er.
Die »Leland Stamford« liegt hinter den großen Docks, an der elbabgewandten,
geschützten Seite der Werft. Ob dort jemand auf der Brücke Wache steht? Er
müsste die »Albatros IV« spätestens dann sehen, wenn sie Richtung Kuhwerder
Hafen einbiegen. Würde ein amerikanischer Seemann denken, dass sich da ein
Hobbysegler in den Hafen rettet, weil er von einem Gewitter überrascht worden
ist? Oder würde er Verdacht schöpfen?
Der Schärenkreuzer schneidet durch die scharfen Wellen wie ein
Messer. Stave spürt, wie sich seine Schultern entspannen. Er beginnt, der
eleganten Yacht zu vertrauen. Langsam ahnt er, woher MacDonalds kindliche
Freude stammt. Sollte ich auch mal wieder machen, sagt er sich. Hobbys hat er
keine. Vielleicht auf der Alster? Mit einer Jolle? Mit Anna und Karl? Doch das
erscheint ihm so unerreichbar, dass er sich zwingt, nicht länger Tagträumen
nachzuhängen.
Sie schießen an dem riesigen Dock vorbei. Der Winddruck lässt nach,
das graue Wasser wird ruhiger, der Schärenkreuzer richtet sich auf. Regen
prasselt in Schleiern nieder. Links liegt die »Leland Stamford« am Kai. »Nicht
hinsehen«, rät MacDonald halblaut. »Möglich, dass da jemand mit einem Fernglas
auf der Brücke steht.«
Der Oberinspektor starrt nach vorne. Und wenn wir uns noch so
unauffällig benehmen, fährt es ihm durch den Kopf, unsere Gestalten, die Form
und Farbe unserer Regenumhänge werden von denen da drüben trotzdem bemerkt.
Wenn die uns einige Zeit später auf der Werft sehen, dann werden sie sich
Fragen stellen.
»Wenn wir an dem Barkassenpier festgemacht haben, springen wir von
Bord und gehen am Ufer entlang Richtung Harburg – nicht Richtung Blohm &
Voss«, sagt er. »Sie sollen uns auf dem amerikanischen Frachter sehen und
denken, dass wir uns vor dem Regen in der Stadt in Sicherheit bringen. Hinter
dem ersten Schuppen, der ihnen die Sicht auf uns nimmt, machen wir kehrt und
schleichen uns im großen Bogen zur Werft zurück.«
»Aye, aye, Sir«, ruft MacDonald.
Stave fummelt mit klammen Fingern an der Leine, bis das schwere,
nasse Segel niederrauscht. Die »Albatros IV« verliert Fahrt, gleitet wie ein
erschöpfter Schwimmer an den hölzernen Steg. Der Engländer springt von Bord,
zerrt den Rumpf mit einer Leine noch ein Stück weiter, schlägt schließlich
einen Knoten um einen Poller. Stave gibt sich mit einem zweiten Tampen achtern
ab, bis der Lieutenant Mitleid hat und ihm das Hanfseil aus der Hand nimmt.
»Binden Sie auch Ihre Schnürsenkel so zu?«, fragt er, doch Stave hat sich schon
abgewandt und zerrt ihre Rucksäcke aus dem engen Cockpit. Er befürchtet, dass
seine Pistole nass geworden ist und nicht mehr funktioniert. »Gehen wir erst
einmal in Deckung«, schlägt er vor.
In diesem Augenblick fährt ein Blitz in einen Kran auf der Werft.
Für einen Moment ist Stave blind im grellen Licht, betäubt vom Donner, der
unmittelbar folgt. Der metallische Gestank nach Elektrizität steigt ihm in die
Nase.
»Ich vermute, dass es keine gute Idee wäre, sich in einem Kran zu
verstecken, bis der Schmuggler hier ist«, sagt MacDonald gleichmütig.
Sie eilen den Pier entlang, bis sie hinter der etwa drei Meter hohen
Mauer eines halb zerstörten Schuppens außer Sicht sind. Die beiden Männer
ducken sich und laufen in einem Bogen durch das verwüstete Hafengelände. Stave
hinkt, und anders als MacDonald, der erfahrene Soldat, der instinktiv jeden
Schuttberg, jeden Busch als Deckung nutzt, muss er immer wieder innehalten, um
sich einen getarnten Weg zu suchen. Er sieht schnell ein, dass es besser ist,
dem Lieutenant einfach zu folgen. Aber selbst das fällt ihm schwer, weil ihn
sein verdammtes Fußgelenk schmerzt. Mehr als hundert Meter vor Blohm & Voss
kreuzen sie die Zufahrtstraße, springen hinter dem Wrack eines Kesselwagens auf
den Schienen in Deckung, die parallel zur Straße laufen.
»Ist auch jetzt ein Posten da?«, keucht der Oberinspektor.
»Immer. Wahrscheinlich im Wachhäuschen. Der Junge raucht.« MacDonald
deutet auf ein rötliches
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