Schieber
nicht
abwarten? Der Schauer ist sicher gleich vorbei.«
»Aber jetzt ist niemand mehr draußen. Kommen Sie!« Achtlos wirft er
ein Bündel Reichsmarkscheine auf den Tisch, zerrt aus seinem Rucksack eine
Pellerine und streift sie sich über den Leib. Stave kann ihm kaum folgen, macht
sich ebenfalls rasch regenfertig. Eine Minute später sind sie im Freien – die
einzigen Gestalten auf der Großen Elbstraße. Rutschiges Kopfsteinpflaster,
Wasserschleier an den dunklen Ziegelwänden, die matten gelblichen Lichter eines
spät ankommenden Lastwagens. Kein Fußgänger. Stave zieht die Krempe seines
Hutes tief über das Gesicht und hebt die Schultern. Im Laufschritt vorbei an
den Klötzen der Landungsbrücke. Der Eingang zum Elbtunnel ist ein Würfel aus
hellem Stein, gekrönt von einer Kuppel, umtost von einem Wasserfall aus dem
düsteren Himmel. Im Tunnel kämen sie jetzt trockenen Fußes auf die andere Seite
des Flusses, doch die Zugänge zu der Röhre, die zu Kaiser Wilhelms Zeiten unter
den Strom getrieben worden ist, werden am frühen Abend mit Gittertüren
verschlossen. Stave erwägt einen Augenblick lang, die Tür irgendwie
aufzubrechen. Sei kein Dummkopf, sagt er sich dann. Mit welchem Werkzeug sollen
sie das schaffen? Und wäre das nicht auffällig, wenn sich zwei Männer am Gitter
zu schaffen machten?
Weiter am Elbufer. Tückische Böen, die über den Fluss wehen,
regenschwer und stark. Der Oberinspektor spürt, wie seine Füße nass werden. Die
feuchte Hose klebt an seinen Oberschenkeln.
»So stelle ich mir einen Sommer in Schottland vor«, brummt er.
»Der ist noch nasser«, erwidert MacDonald, dessen Laune von Sekunde
zu Sekunde besser wird.
Baumwall. Hölzerne Stege über dem Fluss, der Boden glitschig vom
Regen. Der Oberinspektor blickt sich um. Niemand zu sehen. Der Michel, auf
einer Anhöhe hinter den Trümmern eines zerbombten Geschäftes für Marinezubehör,
wird von schwarzen Wolken umschlungen, eine graue Kirche wie aus einem alten
Gruselfilm der Ufa.
»Kommen Sie!«, ruft MacDonald über das Rauschen des Regens hinweg.
»Das ist ein Einbaum!«, entfährt es Stave.
Zwischen zwei Pfosten ist ein hölzernes Boot festgemacht, weiß
gestrichener Rumpf, sehr lang, sehr schmal, geformt wie eine gigantische
Flosse, ein dunkles Teakdeck auf Vor- und Achterschiff, eine winzige Kajüte.
Nur in der Mitte ein Cockpit, dem Oberinspektor erscheint es kaum größer als
die Öffnung in einem Kajak. Davor ein hoher Holzmast, darüber ein beinahe
ebenso langer Baum, über dem sich das gereffte Segel in wurstartigen Ballen
wölbt. Die »Albatros IV« ist dreizehn Meter lang, aber der Lieutenant hat ihm
verschwiegen, dass sie kaum mannsbreit ist: Sie wirkt wie ein Torpedo aus Holz.
»Damit kommen wir niemals über die Elbe. Nicht bei diesem Wetter.«
»Schwedische Wertarbeit. Die ist stabiler, als sie aussieht«,
beruhigt ihn MacDonald. »Passen Sie beim Einsteigen auf, das nasse Teak ist
glatt.«
Stave stolpert in das schmale Cockpit und stößt gegen die lange,
hölzerne Ruderpinne. Während er noch fluchend sein rechtes Knie massiert, löst
der Lieutenant Vor- und Achterleine und springt dann mit einem eleganten Satz
in die »Albatros IV«, die langsam vom Pier weggleitet. »Das Großsegel wird reichen!«,
ruft er und deutet auf ein Seil am Mast.
Der Oberinspektor zerrt an dem rauen Tau, bis sich flatternd das
gelbliche Segeltuch über ihm wölbt. Das wird jeder sehen, denkt er, und das
Schlagen des Segels hört man bis zum Michel. Doch sie gleiten unbehelligt aus
dem Hafen. Der Schärenkreuzer legt sich unter dem Winddruck auf die linke
Seite, sodass Stave für einen Moment glaubt, in die Elbe zu kippen. Aber die
Yacht stabilisiert sich, schießt auf den Strom hinaus. Kurze, graue Wogen mit
Schaumkronen, die von den Windböen fortgerissen werden. Ein Himmel wie ein
schwarzes Laken. Blitze. Klamme Kälte, die sich in die Haut frisst. Während
MacDonald die Pinne gepackt hält, auf dem Gesicht den seligen Ausdruck eines
Vierzehnjährigen, starrt Stave auf die Elbe. Regenschleier über dem Fluss, aber
keine Rauchfahne, keine Bugwelle, kein dunkler Schatten.
»Die Luft ist rein!«, schreit er über die Böen hinweg, die in den
Wanten heulen.
»Wir brauchen keine zehn Minuten«, antwortet MacDonald.
Der Oberinspektor vermisst jetzt seine Armbanduhr, die ihm
Margarethe zum fünften Hochzeitstag geschenkt hatte. Verkauft in der
Anfangszeit des Schwarzmarktes gegen ein paar Pfund Kaffee, mit dem er wiederum
am
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