Schieber
Tradition,
Relikt einer heilen Epoche. Heute, da so viele Männer und Frauen gestorben oder
verschollen sind, kann man froh sein, jemanden zu haben. Und wenn es dabei
keinen Trauschein gibt, dann kann man sich das Gerede vom »Verlobten« auch
sparen. Er schüttelt dem Mann die Hand. Kräftiger Druck, sichtbare
Erleichterung bei Kümmel und Greta Boesel, dass sich der Polizist einen
mokanten Blick verkneift. Der Kripobeamte erklärt, warum er gekommen ist.
»In welcher Branche arbeiten Sie?«
»Boxen. Ich bin Boxpromoter.«
»Sie haben den Fight Walter Neusel gegen Hein ten Hoff
organisiert!«, ruft MacDonald in plötzlicher Erkenntnis und schüttelt Kümmel
ebenfalls die Hand. »Ich habe damals zugesehen.«
Nun dämmert es auch Stave. Kein Kunde der Kripo, sondern eine
Berühmtheit in Hamburg, zumindest in den Kreisen der Sportenthusiasten: Walter
Kümmel, gelernter Juwelier, der schon vor dem Krieg das Metier wechselte. Ein
ehemaliger Amateurboxer, der entdeckte, dass es lukrativer ist, wenn sich
andere für einen schlagen, als wenn man selbst in den Ring steigt.
Er reicht ihnen eine Visitenkarte, maschinengetippt auf Karton,
etwas schief beschnitten: »Walter Kümmel, Hanseatischer Boxring, Chilehaus B,
Hamburg.«
Keine schlechte Adresse, denkt Stave. »Boxen muss schon wieder
ordentlich was einbringen«, sagt er.
Kümmel lacht, laut, irgendwie ansteckend. Das Lachen eines
selbstbewussten Mannes, der mit sich zufrieden ist. »Den Hanseatischen Boxring
habe ich im Herbst 1945 ins Handelsregister eintragen lassen. Die Beamten dort
haben mich angestarrt, als hätte ich beantragt, die NSDAP neu zu gründen. Mein
erster Kampf war in Kiel, eine Woche später. Ein Boxer war da – der andere
nicht. Steckte irgendwo in einem verdammten Zug fest.«
»Da sind Sie selbst in den Ring gestiegen!«, ruft MacDonald. »Und
haben gewonnen. Verrückte Geschichte.«
»Man tut, was man kann. Inzwischen muss ich nicht mehr
improvisieren. Ich habe seither mehr als 40 Kampftage organisiert. Vier
deutsche Meister sind bei mir unter Vertrag. Bald werde ich meine ersten Jungs
über den Großen Teich schicken. In Amerika wartet das ganz dicke Geschäft.«
»Und in diesem Geschäft hilft Ihnen ein vierzehnjähriger
Herumstreuner?«, fragt Stave.
Kümmel lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er holt aus seiner
Jacketttasche englische Woodbine hervor und bietet sie in der Runde an. Greta
Boesel nimmt sich eine. Will sie sich ersticken?, denkt Stave. Er selbst lehnt
dankend ab, MacDonald auch – und auch Walter Kümmel steckt sich keine an,
obwohl er doch die Packung hervorgezogen hat.
»Nur eine Geste der Höflichkeit«, sagt er und lächelt, als er den
erstaunten Ausdruck auf Staves Gesicht bemerkt. »Ich bleibe lieber in Form, da
helfen Zigaretten nicht.«
Als er die Packung wieder in seiner Jacketttasche verschwinden
lässt, erhascht der Oberinspektor einen Blick auf ein kleines Glasröhrchen,
gefüllt mit weißen Tabletten. Vielleicht reichen dir auch Zigaretten nicht
mehr, vermutet er. Dann denkt er an Kümmels breite Schultern, den kräftigen
Händedruck, seine elastischen Bewegungen. Spricht eher gegen Drogen. Kleine
Stärkungsmittelchen, damit die Muskeln besser wachsen? Vielleicht hilft Kümmel
seinen Boxern ein wenig nach? Kein Wunder, dass er so viele Meister macht.
Er verscheucht diese Gedanken und hört sich stattdessen an, was der
Boxpromoter über den Jungen sagt. »Der Adolf hätte mit meinen Jungs trainieren
können. Das hat er manchmal auch gemacht. Aber er war zu unzuverlässig.
Schwänzte zu oft das Training. Und wenn er mal im Ring stand, dann bekam er
regelmäßig was auf die Zwölf, obwohl er groß und kräftig ist für sein Alter.
Aber er war irgendwie in Gedanken nie ganz da. Ein Träumer. Oder jemand, der
sein eigenes Ding dreht – was ich eher vermute. Dem fehlte halt die ordnende
Hand des Vaters. Da können Sie als Verlobter der Tante nicht einspringen. Zumal
mir meine Geschäfte wenig Zeit lassen.«
»Aber er hat Ihnen dabei geholfen?«
»Hilfsarbeiten. Er hat für mich Plakate angeklebt, mit denen wir für
Kämpfe werben. Hat auch mal abends bei Veranstaltungen Eintrittskarten
verkauft. Obwohl ich ihn nicht gerne an der Kasse sitzen hatte, zumindest
unbeaufsichtigt.« Er lächelt und macht eine entschuldigende Geste.
»Der Adolf war wirklich nicht unser Sonnenschein«, ergänzt Greta
Boesel und seufzt.
»Wer hat das getan?«, fragt Walter Kümmel.
»Wissen wir nicht«, antwortet Stave.
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