Schieber
»Noch nicht. Darf ich die
Sachen des Jungen sehen?«
Die Frau führt sie durch ihr vollgestelltes Wohnzimmer, über einen
düsteren Flur bis zum Ende des Gangs, wo sich eine Tür zu einer winzigen Kammer
öffnet: kaum größer als ein Wandschrank, handtuchgroßes Fenster, ein Feldbett,
sauber bezogen, eine Kiste. Kein Nachttisch, kein Bild an der Wand.
»Hat der Junge keine Fotos seiner Eltern?«
»Sind alle in der Wohnung verbrannt.«
»Wie ist Adolf Winkelmann eigentlich damals davongekommen?«
»Er war in jener Nacht bei einer Übung der HJ. Das hat er uns
zumindest später erzählt. Vielleicht war er auch ausgerückt. Ganz sicher war er
nicht im Haus. Den Angriff hat niemand im Block überlebt.«
Stave blickt sich um: keine Bücher, keine Spielsachen, kein Radio,
keine Briefmarkensammlung, keine Briefe. »Darf ich?«, fragt er und bückt sich
zur Kiste. Er öffnet sie, ohne eine Antwort abzuwarten, und durchsucht die
wenigen Habseligkeiten.
Eine lange Hose, eine Badehose, Unterwäsche, ein ausgetretenes
Sandalenpaar – zu klein für den Jungen, vermutet Stave, als er die Schuhe
hochnimmt –, zwei geflickte Hemden, ein zusammengelegter Wintermantel. Ganz
unten drei Packungen Lucky Strike, ungeöffnet.
Greta Boesel blickt den Oberinspektor überrascht an. »Hätte ich das
gewusst«, sagt sie.
»Hättest du dem Jungen die Fluppen weggeraucht«, vollendet Walter
Kümmel und lacht. »Möchte wissen, was der für Dinger gedreht hat, um an so
viele Zigaretten zu kommen!«
»Das möchte ich auch wissen«, murmelt Stave und schließt die Kiste.
Er hat das Gefühl, als klappe er einen Sarg zu.
»Fehlt etwas aus dem persönlichen Besitz des Jungen?«, will er
wissen, obwohl er die Antwort schon kennt.
Greta Boesel und Walter Kümmel schütteln die Köpfe. »Der besaß mehr,
als ich dachte«, sagt sie. »Wie soll ich da wissen, ob noch etwas fehlt?«
»Die Kiste ist beschlagnahmt. Die nehmen wir mit«, verkündet der
Oberinspektor. »Vielleicht führt uns irgendetwas davon doch weiter.« Das ist
nicht ganz nach Vorschrift, denkt er, aber er hat keine Lust, das Zimmer zu
versiegeln, Staatsanwalt und Richter zu benachrichtigen und zu warten, bis
Verstärkung anrückt. Es ist stickig in der Wohnung.
»Nehmen Sie ruhig«, sagt Greta Boesel gleichgültig.
Stave und MacDonald heben die Kiste an.
»Ziemlich leicht«, sagt der Lieutenant zum Abschied.
Sie verzurren die Ladung zwischen den Rücksitzen des
Jeeps. Stave läuft der Schweiß an den Schläfen hinab, obwohl er sich kaum
anstrengen muss.
»Eine trauernde Familie«, murmelt MacDonald, nachdem sie ein paar
Meter die Fuhlsbüttler Straße hinabgefahren sind.
»Ich möchte wissen, was die Boesel mit ihren Lastwagen alles durch
die Zonen karrt«, antwortet der Oberinspektor.
»Sie holt ihre Fracht garantiert im Hafen ab.«
»Und das Segeltuch über dem Balkon hat sie auch nicht in den Alpen
gekauft.«
»Klingt, als würden wir Frau Boesel noch einmal wiedersehen.«
Der Oberinspektor nickt grimmig. »Wenn wir Genaueres zum
Tatzeitpunkt wissen, überprüfen wir ihr Alibi. Andererseits: Warum sollte eine
Tante ihren Neffen ausgerechnet auf einer abgesperrten Werft und dort auf einem
Blindgänger umbringen? Vielleicht hat der Junge ihr ja Zigaretten gestohlen.
Irgendwie muss er an die Packungen Lucky Strike gekommen sein, die wir bei ihm
und in der Kiste fanden. Vielleicht ist sie deswegen wütend geworden. Aber dann
stellt sie ihn nicht bei Blohm & Voss zur Rede.« Er deutet auf die Ruinen,
die links und rechts die Sicht versperren. »Genug Verstecke, um jemanden
ungesehen umzubringen.«
»Außerdem war der Junge ziemlich groß und stark. Und hat, wenn wir
dem Herren Verlobten glauben wollen, manchmal mit professionellen Boxern
trainiert. Wenn er da vielleicht auch nicht sehr gut war – gut genug wird er
gewesen sein, um sich gegen eine Frau zu wehren.«
»Kienle hat in der Halle von Blohm & Voss keine Zigarettenkippe
gefunden. Kann mir kaum vorstellen, dass Greta Boesel irgendwo hingeht und
keine Kippenspur zurücklässt.« Stave nimmt seinen Sommerhut ab, fährt sich
durchs Haar, spürt, wie der Schweiß auf der Haut trocknet. »Trotzdem bleibt das
ein Ermittlungsansatz: Das seltsame Fuhrunternehmen der Tante, die vielen
Zigaretten beim Jungen … Irgendetwas ist da faul. Die andere Sache, die seltsam
ist, sind die Freunde des Opfers: Adolf Winkelmann war ein Herumstreuner. Aber
wo streunte er herum? Mit wem? Wo hat er zum Beispiel seine Tage
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