Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
Vom Netzwerk:
verbracht, wenn
er nicht in der Schule war? Wo die Nächte, wenn er nicht nach Hause kam?«
    »Bahnhofsmädchen, Streuner, Displaced Persons – klingt nach der
Sorte Menschen, denen man besser nicht den Rücken zudreht.«
    »Klingt nach der Sorte Menschen, denen ein Vierzehnjähriger, auch
wenn er noch so durchtrieben zu sein scheint, nicht gewachsen ist.«
    Sie stoppen vor der Zentrale.
    »Kommen Sie noch mit ins Büro?«, fragt Stave. »Ich lade Sie auf ein
Glas Wasser ein. Mehr habe ich nicht, aber das hilft bei dieser Hitze. Und außerdem
schließe ich danach für mindestens fünf Minuten die Tür zum Zimmer von Frau
Berg.«
    »Sehr großzügig.« Der Lieutenant hebt bedauernd die Hände. »Ich
werde Ihnen Erna nachher entführen. Aber jetzt habe ich einen Termin. Bei
Gouverneur Berry.«
    »Er wird Ihrem Zwischenbericht mit großem Interesse lauschen.«
    »Er wird enttäuscht sein, dass ich ihm überhaupt einen
Zwischenbericht liefere und nicht schon den endgültigen Bericht mit der
Aufklärung des Falles, den man dann zu den Akten legen kann. Sehr enttäuscht.«
    Abends verlässt Stave die Zentrale mit dem festen Vorsatz,
in den nächsten Stunden nicht an den toten Jungen zu denken. In einer
Nebenstraße kauft er in einem Blumenladen zehn rote Rosen. Als er die
Reichsmarkscheine über den Tresen schiebt, fühlt er sich, als habe er wieder
ein Stück Alltag zurückerobert. In diesem heißen Frühjahr blühen die Rosen
früh, sie sind überall zu bekommen – ohne Bezugsschein, ohne Tauschgeschäfte
auf dem Schwarzmarkt, ohne Warteschlangen. Wann hat er das zuletzt gemacht, etwas
Schönes und herrlich Sinnloses zu kaufen?
    Er hält die Rosen vorsichtig in der Armbeuge, fast wie ein
Kleinkind, saugt ihren Duft ein, schreitet rascher voran. Bald erreicht er das
Garrison Theatre am Hauptbahnhof. Früher war das mal das Deutsche Schauspielhaus,
und er hat manchmal, wenn sein karges Gehalt es ihm erlaubte, mit Margarethe in
einer der hinteren Reihen gesessen. Nun hören die britischen Offiziere hier
Jazz oder lachen bei Komödien von Noël Coward, die Londoner Ensembles geben,
deren Namen so klingen, als seien sie schon im Mittelalter gegründet worden.
Warnschilder stehen einige Meter vor dem Portal: »Out of Bounds for German
Civilians!«
    Er hat sich hier mit Anna verabredet. Er lächelt bei dem Gedanken an
sie. »Verlobte« wird er sie nie nennen, schon gar nicht nach der Komödie, die
er heute erlebt hat. Ob Anna irgendwann seine Ehefrau wird? Er weiß noch immer
fast nichts über sie. Sind ja erst zwei Monate, denkt er, dass wir ein Paar
sind. Er hat immerhin erfahren, dass sie aus Königsberg stammt. Dass es dort
eine Familie gab, Eltern und womöglich noch mehr Angehörige. Dass keiner von
ihnen im Westen ist. Ob sie noch leben? Vielleicht wird er ihre Geschichte
irgendwann erfahren. Möglich, dass er dann wünschte, er hätte nichts darüber
gehört.
    Gestern hat sie ihm, halb beiläufig, halb verlegen, gestanden, dass
sie heute Geburtstag hat. 32 Jahre. 30. Mai. Das werde ich nicht mehr
vergessen, denkt Stave, mit Daten kann ich umgehen. Er ist zu früh angekommen
und blickt sich um.
    Da sieht er sie: schlank, lange, schwarze Haare, mandelförmige
Augen, ein altes, aber elegantes dunkelblaues Kleid, ein kleiner, abgewetzter
Lederkoffer in der Linken. Man könnte sie für eine Reisende auf dem Weg zum
Bahnhof halten. Doch Stave lächelt wissend und weicht ein paar Schritte in den
Schatten des Hauptbahnhofes zurück. Er erkennt, dass ihr federnder, rascher
Gang nicht Eile oder Selbstsicherheit ausdrückt, sondern Nervosität.
    Ein kleines, illegales Geschäft liegt vor ihr.
    Anna ist nun genau vor dem Garrison Theatre. Sie streift mit dem
Saum ihres Kleides das Verbotsschild mit der harschen englischen Aufforderung.
Da tritt aus dem Portal des Theaters ein älterer, bebrillter britischer Captain
heraus. Drei, vier Schritte, dann ist er bei Anna. Die beiden wechseln einige Worte.
Sie tritt von einem Bein auf das andere, blickt sich immer wieder um.
    Sie sollte sich ein Pappschild um den Hals hängen: »Mache illegales
Geschäft!«, denkt Stave seufzend. Alter ostpreußischer Adel und neuer Hamburger
Schwarzmarkt, das wird nie zusammenpassen. Eigentlich ein Wunder, dass seine
Geliebte nicht häufiger von den Kollegen festgenommen wird. Sie plündert in den
Ruinen, sucht in Trümmern alte Bilder, antike Bücher, Möbel, Uhren, Schmuck;
dann restauriert sie ihre Beute, so gut es geht, und verkauft sie an

Weitere Kostenlose Bücher