Schieber
und einige Jutesäcke.
Greta Boesel tut so, als bemerke sie seine überraschten Blicke
nicht, dreht das Radio ab und geht zur geöffneten Balkontür weiter. Der Balkon
weist zur Fuhlsbüttler Straße. Aus einigen Eisenrohren und Seilen hat jemand
dort eine Konstruktion aufgebaut, die eine gelbliche Stoffbahn als Sonnenschutz
trägt. Ein altes Segel, vermutet der Oberinspektor. Könnte aus dem Hafen
kommen.
»Hier ist es nicht ganz so stickig wie drinnen«, sagt Greta Boesel
und deutet auf vier Korbstühle.
Stave würde lieber stehen bleiben, doch er weiß nicht, wie er die
Einladung ablehnen soll. Er will nicht noch schroffer auftreten, als er es nun
tun muss. Er holt eines von Kienles Polizeifotos aus seiner Tasche.
»Ist das Ihr Neffe?«, fragt er.
Er hört, wie MacDonald nach dieser unvermittelten Frage zischend Luft
holt, als hätte er einen Schlag abbekommen. Stave blickt den Lieutenant nicht
an, er hätte gerne das Gespräch vorsichtiger eingeleitet, rücksichtsvoller.
Aber ihm fehlen die verdammten Worte dafür.
Greta Boesel betrachtet das Bild. Es zeigt nur den Kopf des Jungen,
nicht seinen blutbesudelten Oberkörper und schon gar nicht die Bombe, auf der
er liegt – aber auch ein Laie kann sehen, dass dieser Junge nie wieder seine
weit aufgerissenen Augen schließen wird.
»Das ist mein Adolf«, sagt sie schließlich. Ihre raue Stimme klingt
plötzlich seltsam flach. Sie spannt die Kiefermuskeln an. Doch als sie Stave
das Foto zurückreicht, zittern ihre Hände nicht.
»Der trieb sich oft sonst wo herum. Ich hab schon lange geahnt, dass
es mit ihm ein böses Ende nehmen würde«, verkündet sie.
»Woher wissen Sie, dass er ein böses Ende nahm?«
»Wären Sie sonst hier?«
»Es hätte auch ein Unfall sein können.«
Sie zuckt die Achseln, geht nach drinnen, kommt mit einer glimmenden
Zigarette wieder auf den Balkon.
»Was ist mit ihm geschehen?«
Stave denkt an seinen Sohn. An die Sorgen, die er sich um Karl
macht, an das quälende Warten, ob endlich einmal wieder ein Brief aus dem Lager
kommt, an die Angst davor, dass es der falsche Brief sein könnte, einer von
irgendeiner seelenlosen Behörde: »Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass
Ihr Sohn Karl Stave …« Nicht daran denken. Dankbar sollte er Greta Boesel sein,
dass sie ihm keine Szene macht. Sie ist nicht die Mutter des Jungen, bloß die
Tante. Und sie ist Witwe, sie hat sich vielleicht schon an den Tod gewöhnt. Und
so schluckt der Oberinspektor seinen Zorn über die Gefühlskälte dieser
eleganten Frau hinunter und erzählt ihr, so kurz und so taktvoll wie möglich,
unter welchen Umständen sie Adolf Winkelmann gefunden haben.
»Sie werden von einem Kollegen demnächst abgeholt werden, um den
Jungen in den Räumen der Rechtsmedizin zu identifizieren. Eine Formalie, aber
bedauerlicherweise muss das sein.«
»Die Beerdigung hat also noch ein paar Tage Zeit.«
»Wann haben Sie den Jungen zuletzt gesehen?«, fragt Stave.
»Vor einer Woche. Adolf ist immer mal wieder für einige Tage
verschwunden, aber nie lange. Hat hier genug zu futtern bekommen, und ein
Bengel von vierzehn Jahren vertilgt mehr als zwei ausgewachsene Männer.
Jedenfalls habe ich mir zunächst nichts dabei gedacht. Erst als eine ganze
Woche rum war, bin ich zur Polizei gegangen.«
»Was tat Adolf in der Zeit, die er nicht bei Ihnen war?«
Ein Achselzucken. »Der Junge war so selbstständig. Der ließ sich von
mir nicht mehr dreinreden.«
»Wo übernachtete er?«
Greta Boesel bläst Zigarettenqualm aus dem Mund und formt dabei mit
ihren roten Lippen ein »O«, das Stave irgendwie obszön findet. Er zwingt sich,
nicht auf ihren Mund zu starren.
»Das mag Ihnen vielleicht seltsam vorkommen, Herr Oberinspektor, aber
ich war schon froh, dass ich mit dem Adolf einigermaßen ohne Streit klarkam. Er
hat mich in Ruhe gelassen, ich ihn, das war so ungefähr unser ganz privates
Abkommen. Wir leben hier beengt.«
»Sieht aus wie ein Warenlager.«
»Das ist ein Warenlager.« Sie seufzt, als hätte sie das, was sie nun
sagen muss, schon tausendmal sagen müssen. »Ich bin Fuhrunternehmerin«, erklärt
sie. »Firma ›Boesel & Cie.‹ – aber das mit der ›Compagnie‹ können Sie
vergessen, ich stehe auf eigenen Beinen. Mein Mann hat die Firma aufgebaut und
durch die schweren Jahre ab 1929 geführt und durch die Nazizeit und sogar heil
durch den Krieg. Aber vier Monate nachdem die Engländer hier waren«, sie wirft
MacDonald einen Blick zu, eher dankbar als
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