Schieber
größere Einfamilienhäuser aus Backstein, dann eine Reihe von
Siedlungshäuschen, klein und alt und schief wie Hexenhütten.
Das Mädchenheim liegt am Ende der Sackgasse, zwischen den tiefen
Schneisen zweier Bahntrassen. Ein schlossartiges Gebäude, wie ein Gymnasium aus
der Kaiserzeit: Backstein, Portal mit Doppeltreppe davor, geschwungener Bogen,
weiße Fenster, wuchtig, einschüchternd.
Stave meldet sich an der Pförtnerloge neben dem Eingang, bis eine
Betreuerin kommt. Über die Treppe im Innern eilt eine junge Frau, frisches
Gesicht, elastischer Schritt, Lächeln.
Der Oberinspektor erklärt ihr nicht, wie er Hildegard Hüllmann
getroffen hat. Er zückt nur seinen Dienstausweis, murmelt vage, er habe am
Bahnhof dieses Waisenmädchen aufgegriffen. Die junge Prostituierte sagt gar
nichts, blickt starr auf einen Punkt irgendwo zwischen ihm und der Betreuerin.
»Wir kümmern uns um sie«, sagt die junge Frau und fasst Hildegard
Hüllmann behutsam am Ellenbogen. Dann führt sie das Mädchen fort. Keiner der
beiden dreht sich zum Abschied noch einmal zu Stave um.
Ein paar Stationen mit der Straßenbahn, ein langer Fußweg,
schließlich ist der Oberinspektor in Harvestehude. Mit Anna hat er sich erst
für den späteren Nachmittag verabredet. Er hat keine Lust, in seiner leeren
Wohnung zu warten. Ein Teil von ihm fürchtet sich sogar, dort zu sein – Karl
könnte plötzlich anklopfen. Absurd, sagt sich Stave, ich freue mich doch auf
meinen Sohn.
Aber trotzdem sollte er MacDonald auf dem Laufenden halten. Und
warum nicht jetzt? Also steht er vor der requirierten Villa in der
Innocentiastraße, in der sich drei jüngere britische Offiziere einquartiert
haben. Amerikanischer Jazz plätschert aus einem Raum, der früher der Salon
gewesen ist. Der Lieutenant ist da und führt ihn im ersten Stock in seine Räume – zwei ehemalige Kinderzimmer, wie Stave erstaunt feststellt. Weiße und
blassrosafarbene Tapeten an den Wänden, dünne dunkle Linien unter eingehauenen
Nägeln, geisterhafte Abdrücke von ovalen Bilderrahmen, die dort einst hingen.
Weiße Vorhänge, die aus dem hereinflutenden Sonnenlicht verspielte Muster
stanzen.
»An die Dekoration sollte ich mich schon mal gewöhnen, meint Erna.«
MacDonald ist dem Blick des Oberinspektors gefolgt. »Sie meint, dass es ein
Mädchen wird.«
Stave denkt an Hildegard Hüllmann und daran, dass sie niemals ein
Zimmer wie dieses sehen wird. »Apropos Mädchen«, erwidert er, »ich habe mit
jemandem gesprochen, der uns vielleicht auf eine Spur bringen könnte.«
Er berichtet ausführlich von seinem Gespräch mit der jungen
Prostituierten.
»Meinen Sie, dass es eines der Wolfskinder war?«, fragt der
Lieutenant schließlich. »Hoffentlich nicht. Denn diese Banden sind verschlagener
als Partisanen. Wenn unser Mörder bei denen untertaucht, dann verschwindet er
für immer.«
»Danke, dass Sie ›unser‹ gesagt haben und nicht ›Ihrer‹, Herr
Lieutenant. Dann teilen wir uns wenigstens das Versagen.«
»Ja, aber wenn wir diese Sache vermasseln, dann geht danach nur
einer von uns beiden nach Palästina oder Indien.«
Stave bemerkt zum ersten Mal, wie müde der junge Engländer wirkt.
Abgekämpft. »Eine Scheidung ist immer hässlich. Aber deswegen muss man noch
lange nicht ans andere Ende der Welt gehen.«
»Ich gehe nicht freiwillig«, ruft MacDonald und ballt die Faust.
Dann zwingt er sich zum Lächeln. »Nichts für ungut, alter Junge. Sie scheinen
mir der einzige Mensch im Empire zu sein, der nichts dagegen hat, dass ich mich
in Erna Berg verliebt habe. Obwohl Sie wahrscheinlich am meisten darunter
leiden werden. Ist ja Ihre Sekretärin.«
»Ich werde sie vermissen.«
Der Lieutenant reibt sich die Schläfe und geht zu einem
Kinderschreibtisch, öffnet die oberste Schublade. »Whiskey?«, fragt er, holt
eine Flasche und zwei Gläser hervor.
Stave betrachtet die bernsteinfarbene Flüssigkeit und bekommt Durst.
Doch er sollte Anna nach dem gestrigen Abend nicht auch noch mit einer
Alkoholfahne gegenübertreten. »Bedaure, bin im Dienst«, sagt er.
MacDonald zuckt die Achseln und schenkt sich zwei Fingerbreit ein.
»Einige meiner Kameraden haben deutsche Mädchen geheiratet. Dafür braucht jeder
Soldat eine Sondergenehmigung, ausgestellt vom Gouverneur. So weit so gut.
Trotzdem gibt es manchmal riesigen Ärger. Ich weiß von einem Captain, der eine
Hamburgerin geheiratet hat, mit Erlaubnis und Papieren. Hat an alles gedacht,
nur nicht an seine eigene Familie. Die
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