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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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nun nicht mehr über Karl reden kann.
    Ehrlich leidet unter der Hitze. Schweißperlen umglitzern seine
Glatze, auf seinem Sommerhemd breiten sich unter den Achseln dunkle Flächen
aus. Trotzdem reibt er sich aufgeräumt die Hände, tatendurstig, fröhlich.
    »Wie läuft Ihr Prozess?«, fragt der Oberinspektor. »Haben Sie schon
für das Fallbeil plädiert?«
    Anna wirft ihm einen warnenden Blick zu. Doch der Staatsanwalt
schüttelt jovial den Kopf. »Die leidige Angelegenheit wird noch etliche
Prozesstage kosten«, erwidert er. Dann berichtet er Anna von seinem Fall.
Missvergnügt erkennt Stave, wie interessiert seine Geliebte ihm lauscht. Wie
gut der Staatsanwalt erzählen kann – viel besser als er, wenn er über seine
Ermittlungen Worte verliert.
    »Und wie stehen die Dinge bei Ihnen, Herr Oberinspektor?«, fragt
Ehrlich schließlich. Er schlürft an seinem Brennnesseltee, bis seine
Brillengläser beschlagen. Doch der Blick hinter der verhangenen Brille ist
aufmerksam.
    Stave rutscht verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Soll er in
Annas Gegenwart davon erzählen, wie er am Hauptbahnhof eine vierzehnjährige
Prostituierte angesprochen hat? Ein käufliches Mädchen, das ihm sogar bekannt
ist? Vage spricht er von einer Herumstreunerin und gibt die Geschichte von
Hildegard Hüllmann wider. Seine Worte kommen ihm selbst dürr vor und irgendwie
verlogen, obwohl er, außer dem einen Detail, nichts an der Geschichte weglässt.
    »Als ich mich auf den Weg nach Westen gemacht habe, sind bei den
Trecks jeden Tag Kinder verschwunden. Manche waren über Nacht weg. Andere waren
im einen Augenblick noch da, im nächsten spurlos fort. Ich glaubte immer, dass
Hunger und Kälte sie geholt haben. Oder vielleicht die Wölfe«, bemerkt Anna,
als er geendet hat.
    Ehrlich schüttelt den Kopf. »Viele von den Jungen und Mädchen sind
hier angekommen oder in Berlin, Leipzig, Dresden und anderen Städten.«
    »Kleine Gespenster von 1945«, murmelt Stave. Die beiden gucken ihn
einen Moment lang irritiert an.
    »Kleine Gespenster, in der Tat«, sagt der Staatsanwalt dann in
begütigendem Ton. »Wir werden noch Jahre brauchen, um alle wieder ihren
Familien zuzuführen. Falls noch jemand von diesen Familien lebt,
selbstverständlich. Und ich befürchte, viele werden für immer unserer
Gesellschaft, überhaupt jeglichem zivilisierten Leben entwöhnt sein.«
    »Was wird aus ihnen?«, will Anna wissen.
    »Sie werden Herrn Stave und mich bis zur Pensionierung in Atem
halten.«
    Stave schweigt, denkt an seinen Sohn und fragt sich, ob jemand, der
mit siebzehn die Wehrmacht und anschließend Workuta erlebt hat, genauso
verloren sein wird wie ein Wolfskind. Er ist so sehr mit seinen Sorgen beschäftigt,
dass er überhaupt nicht bemerkt, wann und wie Anna und der Staatsanwalt das
Thema wechseln. Plötzlich findet er sich als Randfigur einer Diskussion über
Kunst wieder. Ehrlich erzählt von seiner Sammlung expressionistischer Meister
und ihrer Werke. Annas Geschmack ist konservativer, was sie nicht verhehlt,
doch wirft sie Details ein, die selbst Ehrlich nicht kennt. Die beiden
unterhalten sich angeregt, lachen, disputieren schließlich über verkannte
Künstler und entlegene Werke, über entartete Kunst und verschollene Schätze aus
zerstörten Museen. Nichts kann Stave dazu beitragen, gar nichts. Er fühlt sich
überflüssig.
    Er würde am liebsten aufstehen, Anna am Arm nehmen und mit ihr die
Alster entlangschlendern, ihren vertrauten Duft einatmen, ihr endlich alles
erzählen von Karl und von seinen Sorgen über die Zukunft. Doch da er nicht
unhöflich sein will, bleibt er sitzen, zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, bis
ihm die Mundwinkel schmerzen, schweigt. Das habe ich gründlich vermasselt,
denkt er.
    Die Abendsonne überglänzt die Trümmerberge schon, als sie endlich
das Café verlassen. Ehrlich verabschiedet sich höflich und spaziert davon: ein
schwitzender, zufriedener kleiner Mann. Anna blickt ihm nach, wendet sich
schließlich Stave zu. Sie sieht enttäuscht aus. Stave murmelt eine vage
Entschuldigung, doch irgendwie kommen ihm nur die falschen Worte in den Sinn.
    »Ich bin müde«, sagt Anna schließlich bestimmt, »ich gehe jetzt nach
Hause.« Sie küsst Stave flüchtig auf die Lippen und fragt ihn nicht, ob er
mitkommen will.

Heimkehr
    Montag, 2. Juni 1947
    Um kurz vor acht Uhr morgens steht Stave am Portal der
Volksschule im Graudenzer Weg in Barmbek. Er kannte sie bislang nur aus der
Zeitung: Hier wurde im Sommer 1945 die

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