Schieber
Stave fragt sich, wie eine Schwangere mit diesen Hungerrationen ein
Kind in ihrem Bauch versorgen kann. Müsste ihr mal was mitbringen, denkt er
schuldbewusst.
»Wissen Sie, ob Dönnecke schon da ist?«, fragt er.
»Das alte Schlachtschiff? Der war heute Morgen schon bei Cuddel
Breuer. Sah danach weniger zufrieden aus als davor.« Sie lacht leise, hält sich
erschrocken die Hand vor den Mund. »Wollen Sie zu ihm? Wegen des toten Jungen?
Sie kannten ihn.«
Irgendwann wird ein Großschieber vom Schwarzmarkt auf den genialen
Einfall kommen und Erna Berg eine Belohnung anbieten. Kostet ihn nur ein paar
Stangen Zigaretten, denkt der Oberinspektor, ein Bruchteil seines Profits.
Dafür würde er von ihr alles erfahren, was es von den Fluren der Zentrale zu
erfahren gibt. Mit den Zigaretten könnte sich die Sekretärin Milchpulver kaufen – und einen guten Anwalt für ihren Scheidungsprozess leisten. Gut, dass sie so
unbestechlich ist. »Dann rudere ich mich mal an das Schlachtschiff heran«,
antwortet er und nickt freundlich.
Zwei Minuten später steht er im Büro seines Kollegen, am anderen
Ende des Ganges. Familienfotos auf dem Schreibtisch, Urkunden an den Wänden.
Ganz wie früher, fehlt nur das Führerbild an der Wand. Cäsar Dönnecke ist
rotgesichtig, mit einem grauen Haarkranz, der seinen massigen Schädel wie
Eichenlaub umfasst, Händen wie Kohlenschaufeln, Doppelkinn, Bauch. Bei den
Krimsches laufen tausend Gerüchte um, wie der Beamte in diesen kargen Zeiten
seine Leibesfülle erhält, doch niemand kennt den wahren Grund.
Dönnecke blickt von seinem Schreibtisch auf, die Welt vor sich
ausgebreitet. Er riecht nach altem Mann. »Meine Morgenlektüre ist ein Ritual,
Stave. Rituale stört man nicht ohne triftigen Grund.«
»Mein Grund heißt Wilhelm Meinke.«
»Der Herumstreuner?« Dönnecke mustert ihn aus tiefstehenden, dunklen
Augen. Klugen Augen, denkt Stave und ist auf der Hut. Dönnecke ist einer, der
aller Welt verkündet, dass die Polizisten im Dritten Reich nur ihre Pflicht
getan hätten. Unter »Pflicht« verstand Dönnecke damals, mit der Gestapo zur
Gefangenenbefragung in die Keller hinabzusteigen. Niemand weiß, was er dort
unten getan hat.
»Meinke war ein Zeuge in meinem Fall.«
»Ihr Pech, Kollege. Jetzt gehört er mir – zumindest das, was von ihm
noch übrig ist.«
»Das eine hat vielleicht mit dem anderen zu tun.«
»Sie wollen meinen Fall?«
»Ich will Informationen. Ich will Spuren nachgehen.«
»Vergessen Sie es, Stave! Ihr Rotzbengel ist auf der Werft erstochen
worden. Von wem? Ihr Problem. Mein Rotzbengel ist von einem anderen Rotzbengel
mit einem Knüppel erschlagen worden wie ein räudiger Hund. Ich habe
Zeugenaussagen. Ich habe Täterbeschreibungen. Wir suchen nach ihm. Irgendwann
habe ich den Kerl. Dann werde ich ihn verhören, und wenn ich damit fertig bin,
liefere ich ihn handlich verschnürt an den Staatsanwalt ab. Dann, und erst
dann, dürfen Sie sich eine Kopie von meinem Bericht in Ihre Akten heften.«
»Was ist das Tatmotiv?«
Dönnecke hebt die Hände, lässt sie auf die Schreibtischplatte
klatschen. »Ein Sack Kohle? Drei Lucky Strike? Eine Pritsche in einem
Hochbunker? Eine spendable Witwe? Diesen Jungs fehlt jede Zucht und Ordnung.
Die fallen übereinander her wie Raubtiere, aus den nichtigsten Anlässen. Am
schlimmsten sind diese Wolfskinder. Nomen est omen. Wie es aussieht, arbeiten
sie daran, sich selbst zu eliminieren. Der Chef hat mir heute morgen noch einen
zweiten Fall aus dem Milieu aufs Auge gedrückt. Wir haben einfach nicht genug
Beamte. Wenn die Engländer nicht so …«
»Wer?«, unterbricht ihn Stave. Er merkt, dass seine Stimme flach
klingt.
Dönnecke lächelt kalt. »Eine Bekannte von Ihnen, habe ich gehört.
Hat es heute Nacht erwischt. Eins von den Wolfskindern. Ein leichtes Mädchen
vom Bahnhof.«
Stave stürzt aus dem Büro, läuft den Gang hinunter. In seinem Zimmer
reißt er den Hut vom Haken. »Ich bin bei Doktor Czrisini in der Rechtsmedizin«,
ruft er Erna Berg zu.
Dönnecke ist ebenfalls aus seinem Büro gekommen und steht
breitbeinig im Flur, die Zeitung wie ein Fächer in der heißen Luft wedelnd.
»Auch das ist mein Fall, verdammt noch mal!«, brüllt er ihm hinterher.
Eine Viertelstunde später steht Stave außer Atem am
Seziertisch im Institut für Rechtsmedizin. Tageslicht fällt zu den hohen
Fenstern hinein, spiegelnde weiße Kacheln, Stahlblech, der betäubende Gestank
nach Blut, Urin, Kot und Fäulnis. Und auf einem der
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