Schieber
alles durch. Hansaplatz: Adolf
Winkelmann kennt sich dort aus, als Kurier der Schmuggler. Irgendwann erscheint
er dort mit Tonbändern. Ware, die er auf dem Schwarzmarkt erstanden hat?
Unwahrscheinlich, weil niemand dort so etwas Unnützes verschanzt. Also ist der
Junge bloß dort, weil der Hansaplatz eine Art zweite Heimat für ihn ist und er
vielleicht mit seinen Freunden Zeit verbringt. Vielleicht liegt der Ort auch
nur auf seinem Weg von der Quelle seiner Tonbänder bis zum Hafen. Oder er hat
dort irgendwo sein Versteck, in einem Hotelzimmer oder in der Ecke einer
Gastwirtschaft – so wie viele andere Schmuggler.
Der Weg vom Hansaplatz zum Hafen: Er könnte jede Route genommen
haben, von der Mönkebergstraße bis zum kaum sichtbaren Trampelpfad. Keine
Möglichkeit, das zu rekonstruieren.
Bleibt ihm also bloß übrig, noch einmal das Ziel dieses Schmuggels
auszukundschaften: den Hafen.
Am nächsten Morgen wacht er verschwitzt und zerschlagen
auf. Freitag, der 13. Noch immer kommt kein Wasser aus dem Hahn. Der
abgestandene Vorrat in seinen Töpfen und der Badewanne schwindet rasch. Als
Stave in den zersplitterten Spiegel blickt, starrt ihm ein hageres, schlecht
rasiertes Gesicht entgegen, blass unter der Sonnenbräune, Ringe unter den
Augen. Wenn das so weitergeht, denkt der Oberinspektor, habe ich auch bald das
Russlandgesicht. Er nimmt die Straßenbahn, weil er zu erschöpft ist, um die Strecke
zu laufen. Er hat die halbe Nacht wachgelegen und seinen nächsten Schritt
überdacht.
Der Hafen ist riesig: kilometerlange Kais und Docks, die meisten
zerbombt. Dutzende ausländische Frachter an den Molen. Barkassen, Fischerboote.
Hunderte Wracks. Lagerhallen, Kräne, Schuppen. Die Gleisanlagen der Reichsbahn,
groß wie mehrere Fußballfelder. Das wird er niemals alles durchkämmen können,
schon gar nicht in den wenigen Tagen, die MacDonald noch bleiben. Ich brauche
einen Tipp, denkt er – und der Oberinspektor kennt nur einen Menschen, der ihm
diesen Tipp geben könnte: Tätowier-Willi.
Der älteste und beliebteste Meister seines Faches, seit 1902 im
Geschäft. Da war er vierzehn Jahre alt. Willi war auch mal Goldschmied. In der
Inflationszeit schlug er sich als Postkartenmaler durch. Aber eigentlich ist er
ein Meister des Bildes auf menschlicher Haut. In fünf Minuten zeichnet er
seinen Kunden Segelschiffe oder nackte Frauen auf den Körper, zieht den Entwurf
mit Farbe nach. Dann kommt die elektrische Nadel. Stave hat ihn mal in einer
Mordsache als Zeugen befragt, 1938. Tätowier-Willi ist bei den Krimsches
bekannt, deshalb weiß der Oberinspektor, dass er den Krieg überlebt hat. Wenn
jemand ahnt, was im Hafen vor sich geht, dann Willi, der seit fast einem halben
Jahrhundert jeden Seemann verziert, der über die Reeperbahn wankt. Hoffentlich
erinnert er sich noch an mich, denkt Stave.
Die Reeperbahn ist gegen zehn Uhr morgens trist.
Zeitungsblätter segeln im lauen Wind, vor den zerbombten Grundstücken liegt
Erbrochenes auf dem Pflaster, der Gestank nach Zigarettenqualm, schalem Bier
und Urin hängt in den rissigen Hauswänden. Kein Schieber, kein Lude, keine
Bordsteinschwalbe zu sehen. Am Nobistor biegt der Oberinspektor rechts ab in
die Große Freiheit. Eine Gasse zwischen drei-, vier-, fünfgeschossigen Häusern,
berühmt durch den Film mit Hans Albers. Einige Häuser sind zerstört. In den
übrig gebliebenen: Nackttanzlokale, Bars, Nachtclubs. Gemalte Schilder mit
nackten Mädchen und Werbung für Sekt und Schnaps. Keine Lampen, keine Leuchten.
Stave weicht einer britischen Streife aus. Die Große Freiheit ist so eng, dass
er fürchtet, der entgegenkommende Jeep würde ihn streifen, drückte er sich
nicht nahe an eine schmierige Hauswand.
Fast am Ende der Straße das unpassendste Bauwerk im Viertel: die
barocke katholische Kirche Sankt Joseph. Graue Steinsäulen und Portale,
geschwungene Backsteinfassade, zierlicher Turm und nichts dahinter. Das
Kirchenschiff ist zerbombt.
Gegenüber steht noch das, was vom Haus Große Freiheit 38 übrig ist:
die linke Hälfte eines viergeschossigen Bauwerks. Eine Kneipe im Erdgeschoss,
darüber drei Wohnungen, die Fassade zur Großen Freiheit nur zwei Fenster breit.
Schmutzig-gelber Putz, Fenster- und Türrahmen in braunem Ockerton, nackt die
Wand, wo früher die andere Haushälfte stand. Tätowier-Willi hat sein Studio im
ersten Obergeschoss.
Stave tastet sich das schummrige Treppenhaus hoch. Vor Willis
Wohnung hängen zwei mit feiner Schrift versehene Plakate:
Weitere Kostenlose Bücher