Schieber
»Zeichnungen in allen
Ausfertigungen mit sechs garantiert giftfreien Farben, ohne Schwellungen!«,
steht auf dem größeren. Kleiner darunter, weniger sorgfältig geschrieben, aber
mehrfach unterstrichen: »Schwarzhandel verboten!« Mal was Neues, sagt sich
Stave und klopft.
Er muss ein paar Augenblicke warten, dann öffnet ein mittelgroßer,
älterer Mann die Tür, die spärlichen Haare von der Seite über den kahlen
Schädel gekämmt, riesige Drahtbrille, kräftiger Körper, faltige Haut.
Tätowierungen auf beiden Unterarmen, soweit die Hemdmanschetten den Blick
darauf freigeben, und auch auf beiden Händen. Flüchtig fragt sich Stave, ob der
Alte sich die Kunstwerke auf den Händen selbst gestochen hat.
»Der Herr Kommissar!«, ruft Tätowier-Willi.
»Oberinspektor«, erwidert Stave mechanisch. Einen Schlussstrich zum
Dritten Reich ziehen, gut und schön, aber die alten Dienstränge könnten sie
schon wieder einführen. »Sie haben abgenommen«, fährt er fort.
Der Tätowierer schlägt auf seinen kaum vorhandenen Bauch. »108 Pfund. Vor dem Krieg waren es 240. Kulinarisch war das Dritte Reich schon mal
kein Erfolg. Wollen Sie ein Schmuckstück? Einen Sheriffstern auf der Brust?
Oder einen Sowjetstern? Sehr beliebt zur Zeit, vor allem bei betrunkenen
englischen Matrosen. Wenn das deren Vorgesetzte sehen …« Er kichert und führt
den Oberinspektor über einen winzigen Flur in eine enge Küche, wo zwei
Holzstühle neben einem Tisch stehen. »Mein Atelier. Hier sitzen sie alle:
Deutsche, Engländer, Russen, Holländer, Amerikaner, Chinesen. Und nun sogar ein
Polizist.«
»Ich störe nicht?«
»Die meisten Kunden habe ich nach acht Uhr abends, und dann geht das
die ganze Nacht. Morgens zeichne ich.«
»Für das Geschäft?«
»Indirekt.« Er lacht. »Aus dem Postkartenmalen bin ich raus. Was
soll ich auch malen? Zerschmissene Kirchen? Gesunkene Schiffe im zertrümmerten
Hafen? Das schickt doch keiner seiner Liebsten nach Hause. Ich male Schiffe,
Fjorde, Inseln, Leuchttürme. Ich war früher viel unterwegs: Amerika, Holland,
Skandinavien. Also erinnere ich mich an die schönen Motive und entwerfe eine
Zeichnung für meine Kunden. Die meisten wollen zwar bloß nackte Frauen auf dem
Rücken haben oder ein Herz mit Monogramm, ausgeführt in sechs Farben. Aber
manche Kunden wünschen sich die Freiheitsstatue von New York oder ein
holländisches Plattbodenschiff. Was wollen Sie? Einen Peterwagen?«
»Ich bin bloß zum Reden hierhergekommen.«
»Dachte ich mir«, erwidert Tätowier-Willi enttäuscht. »Ich hätte
Ihnen auch Ihre Dienstmarke auf die Brust stechen können. Wäre mal eine
Premiere gewesen.«
Stave lächelt schwach, holt schweigend das Foto des ermordeten Adolf
Winkelmann aus der Tasche und legt es behutsam auf den Küchentisch.
»Dieser Junge war da, wo er nichts zu suchen hatte. Im Hafen.«
»Der Junge von der Werft? Der, den sie bei Blohm & Voss von
einem Blindgänger klauben mussten?«
Das Lächeln des Oberinspektors wird hoffnungsvoller. »Das spart mir
langatmige Erklärungen.«
Der Tätowierer hebt abwehrend die Hände. »Ich kenne den Jungen
nicht. Nie gesehen, nicht bei mir im Studio, nicht nebenan auf der Reeperbahn.
Ich dachte mir nur, dass es das arme Schwein ist, von dem mir ein paar
Werftarbeiter erzählt haben.«
»Deshalb bin ich hier. Mir geht es um den Jungen. Und ich möchte
mehr wissen über Werftarbeiter. Über Schauerleute. Über Matrosen. Über alle,
die sich sonst noch im Hafen herumtreiben.«
Tätowier-Willi blickt noch einmal auf das Foto. »Meinen Sie, einer
von denen hat das getan?«
»Dem Jungen ist keine Dachpfanne auf den Kopf geknallt.«
»Schießen Sie los.«
»Reden Ihre Kunden viel über den Mord?«
»An dem Tag, als das in der Zeitung stand, ja. Jetzt weniger. Das
Übliche eher.«
»Was ist üblich?«
Er lacht. »Boxkämpfe. Der HSV. Jazzmusik. Schnaps. Und Frauen, vor
allem Frauen.«
»Niemand hat bei Ihnen mal einen Verdacht geäußert? Einen Namen
fallengelassen?«
»Nein. Die Arbeiter von Blohm & Voss waren nicht gerade erbaut,
die Polente auf der Werft zu haben. Nichts für ungut. Aber Sie wissen, dass
viele von denen Kommunisten sind. Die sind schon wütend genug über die
Demontage. Als Engländer möchte ich da nicht alleine hingehen. Aber keiner von denen
hat den leisesten Schimmer, wer der Mörder des Jungen war. Oder was der Bengel
bei ihnen im Hafen zu suchen hatte.«
»Angenommen, das Opfer hat etwas mit Schmuggel zu schaffen
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