Schieber
wartet. Doch er zwingt sich, nicht an die leeren
Zimmer und die langen Abendstunden zu denken, die vor ihm liegen.
Fragen und Antworten
Montag, 16. Juni 1947
Ein verlorenes Wochenende. Greta Boesel hatte gesagt, dass
ihr Verlobter für sie eine Fahrt in die amerikanische Zone unternommen habe und
erst am Montagmorgen wieder in seinem Büro im Chilehaus anzutreffen sei. Sie
hatte einige Städte und Handelspartner angegeben, aber behauptet, dass sie
nicht wüsste, wann und in welcher Reihenfolge Kümmel die Orte anfahren wollte.
Stave hatte bei den Firmen und bei Kriminalkollegen in Wiesbaden, Frankfurt,
Nürnberg und München angerufen und gebeten, dass man sich dort nach dem
Lastwagen umsehen sollte, dessen Kennzeichen ihm die Tante des toten Jungen
gegeben hatte. Kein Rückruf. Es war, als sei Walter Kümmel vom Erdboden verschluckt
worden. Der Oberinspektor hatte Stunden in seinem Büro vor dem stummen Telefon
zugebracht – immer noch besser, als das Wochenende über in der leeren Wohnung
zu hocken, sich in Sehnsucht nach Anna und seinem Sohn zu verzehren und darüber
langsam wahnsinnig zu werden.
Sonntagabend war MacDonald plötzlich in sein Büro geplatzt und hatte
ihn zu einem Jazzkonzert eingeladen. Stave hatte das Gefühl, dass Erna Berg
irgendwie wusste, dass er das Wochenende in der Kripo-Zentrale verbrachte – und
nicht zu Hause bei seinem Sohn. Wahrscheinlich hatte sie sich Sorgen um ihn
gemacht. Sie hatte jedenfalls ihren Liebhaber gebeten, den Oberinspektor
mitzunehmen. Stave macht sich wenig aus Jazz, und es war ihm unangenehm, als
Dritter mit dem Paar zu gehen, doch er fand nicht die richtigen Worte, um sich
aus der Einladung herauszuwinden. Auch beim Lieutenant war die Fröhlichkeit ein
Firnis, unter dem seine Anspannung hindurchschimmerte. Noch drei Tage. Aber er
war so höflich, ihm keine drängende Frage zu stellen.
Also waren sie mit MacDonalds Jeep ins Hagenbecksche Festzelt auf
der Moorweide gefahren. Der Lieutenant war nicht in Uniform. Es war das erste
Mal, dass Stave MacDonald in Zivil sah, in einem hellen englischen Sommeranzug
mit passendem Hut. Eleganter als ein Schieber, dachte Stave neidlos.
Es war schwer zu schätzen, wie viele Menschen sich im Zelt drängten.
Eintausend? Zweitausend? Meistens Deutsche, jung, in ihren besten
Kleidungsstücken. Dazu einige englische Offiziere und mehrere Amerikaner, die
vielleicht aus Bremen oder Berlin oder sogar aus der Besatzungszone im Süden zu
diesem seltenen Ereignis gekommen waren. Der Kripobeamte musste an Walter
Kümmel denken.
Er hielt sich am Rand des verqualmten Zeltes. Bleierne Hitze unter
den Stoffbahnen. Schweiß und Schwarzmarktparfum. Gene Hammers und seine
dreißigköpfige Band: jaulende Saxofone und Trompeten, der Schlag von Trommel
und Bass. Stave starrte die Musiker an, verschwitzt, ekstatisch, zuckend.
Einige waren schwarz – er hatte, außer am Hafen und in einigen Propagandaberichten
in den alten Nazi-Wochenschauen, noch nie Farbige gesehen. Dann eine Sängerin:
weißes Kleid, knallroter Mund, lange schwarze Haare, rauchige Stimme. Die kam
ihm bekannt vor, dann fiel es ihm staunend wieder ein. Keine Amerikanerin –
eine Deutsche. Margot Hielscher, sie hatte einige Rollen in Kinofilmen gehabt.
Bis 1945. Nun sang sie leidenschaftlich Jazz, die Männer starrten sie mit
großen Augen an, und die Amerikaner riefen Sätze, von denen Stave froh war,
dass er sie mit seinem mangelhaften Englisch nicht verstand.
Er tanzte nicht, hätte sich unauffällig aus dem Zelt geschlichen,
wäre das nicht unhöflich gewesen gegenüber MacDonald und Erna Berg, die sich im
Getümmel der Zuschauer amüsierten – sie trotz ihres gewaltigen Babybauches.
Jazz ist Amimusik, laut, fremd und provozierend. Stave mag klassische Stücke,
auch wenn ihn die Kollegen, die lieber Zarah Leander hören, deshalb auslachen.
Er fühlte sich am gestrigen Abend verloren in der neuen Zeit.
Aber an diesem Morgen fühlt er sich nicht länger verloren, da er die
Ahrensburger Straße hinuntereilt, denn nun tut er das, was er am besten kann:
eine Spur verfolgen. Am Hauptbahnhof vorbei, Klosterwall, Deichtorplatz, dann
rechts: das Chilehaus.
Das spektakulärste Kontorhaus der Stadt, eine zehngeschossige,
gezackte Klippe aus Backstein. In den zwanziger Jahren, als es gebaut wurde,
war es ultramodern. Nun wirkt es vollends wie ein Artefakt aus der Zukunft, das
durch eine Zeitmaschine irgendwie in das Jahr 1947 geschleudert worden ist,
denn das dreieckige, zur Elbe
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