Schief gewickelt (German Edition)
erfinden.
Gut, ich gebe zu, das Kinderlaufrad hat nicht nur schlechte Seiten. Wenn man es mit dem Bobby-Car vergleicht, muss man immerhin sagen, es macht keinen Lärm und verschleißt deutlich weniger Schuhe. Das Problem ist nur, es ist – schnell. Unsere Vorväter hatten gute Gründe, warum sie ihren Zwergen nie etwas anderes als die schrecklich lahmen Dreiräder spendierten. Aber unser Laufraderfinder war nicht mit deren Weitblick gesegnet. Erst als ihm sein kleiner Racker zum ersten Mal auf dem Bürgersteig einer stark befahrenen Straße mit Höchsttempo davongefitscht ist und er nur noch beten konnte, dass er bei der nächsten Querstraße wieder anhält, fiel bei ihm der Groschen. Leider war es dann schon zu spät. Das Ding war längst in Serie gegangen und ergoss sich kurze Zeit später landauf, landab über die Geburtstagsgabentische.
Daniel hat natürlich auch eins. Ich weiß nicht sicher, ob er im Vergleich zu den anderen Kindern besonders schnell damit unterwegs ist. Einen vagen Verdacht habe ich aber schon, dass er der Evil Knievel des Laufrads ist.
Und natürlich will Daniel heute mit dem Laufrad einkaufen gehen. War ja klar. Ich mache gute Miene zum bösen Spiel und schleppe das Ding die zwei Treppen runter. Auf dem Bürgersteig angekommen, lasse ich ihn vom Haken, wie immer mit einem komischen Gefühl im Magen.
Als Erstes kommt die Lychener Straße. Daniel ist noch nicht richtig warm. Deswegen ist er mir, als er der Bürgersteigkante entgegenrollt, nur so weit voraus, dass ich ihn notfalls noch mit einem Oliver-Kahn-Gedächtnis-Hechtsprung erwischen könnte. Kurz bevor ich abhebe, steigt er aber brav in die Eisen. Nicht einmal einen Zentimeter ragt das Vorderrad in den Straßenraum. Sehr präzise gebremst, muss man ihm lassen.
Aber die Lychener ist nur eine Nebenstraße. Da schleichen gewöhnlich höchstens ein paar harmlose Parkplatzsucher herum. Ganz anders die Pappelallee, die wir als Nächstes meistern müssen. Durchgangsverkehr, Straßenbahn, das ganze Programm. Und die Aufwärmphase ist jetzt leider auch vorbei. Daniel zischt mit Warp 9,9 davon. Kein Torwart der Welt könnte ihn noch abfangen. Ich brülle noch einmal aus Leibeskräften: »An der Straße Stopp machen!«, falle dann auf die Knie und fange an zu beten. Zwecklos. Daniel wird immer schneller. Selbst schuld. Warum bin ich bloß aus der Kirche ausgetreten? Da! Drei Meter vor der Kreuzung. Eine Qualmwolke. Daniel ist nicht mehr zu sehen. Ein Zwanzigtonner donnert vorbei. Wie in Trance lese ich die Aufschrift auf der Plane.
Spedition Mordhorst.
Ich renne los. Der Qualm verzieht sich.
Okay. Daniel steht, als wäre nichts gewesen, an der Bordsteinkante und summt ein Liedchen. Aus den zwei schwarzen Bremsspuren, die seine 60-Euro-Kinderschuhe hinter ihm auf den Gehwegplatten hinterlassen haben, züngeln kleine Flammen.
Als hätte der Verkehr Mitleid mit mir armem geplagtem Papawesen, spendiert er uns, als ich bei Daniel ankomme, aus heiterem Himmel eine großzügige Lücke und lässt uns passieren. Wir kommen genau bis zur Mitte der Straße.
»Guck mal, Papa. Ein ganz großer Popel.«
Daniel streckt mir etwas Grünlich-Gräulich-Schleimiges auf seinem Zeigefinger entgegen.
»Sehr schön, aber musst du hier mitten auf der Straße popeln? Komm weiter. Schnell!«
»Aber kannst du den mir abmachen?«
Höllenhunde! Ich habe kein Tempo in der Hosentasche, und die Blechlawine marschiert unaufhaltsam. Aber bis das Popelproblem nicht gelöst ist, komme ich hier nicht mit ihm weg. Ich lasse ihn das Schleimding schweren Herzens an meinem Hemd abwischen und atme auf, als er sich wieder in Bewegung setzt.
Ganz knappe Sache. Jetzt kommt zum Glück nur noch die Stargarderstraße, und die hat eine Ampel. Mein Puls ist wieder halbwegs unten und hofft, für eine Weile dort bleiben zu können, obwohl mir Daniel schon wieder gefühlte fünf Kilometer voraus ist.
Grün.
Ich sehe von weitem, dass er trotzdem an der Bordsteinkante anhält. Sehr brav. Als ich ankomme, ist immer noch grün.
»Okay. Wir können gehen.«
Daniel fährt dicht neben mir her. So ganz geheuer sind ihm die stehenden Autos nicht. Gut so.
»Oh! Rot!«
Er hält schon wieder mitten auf der Straße an.
»Ja, rot. Jetzt müssen wir ganz fix von der Straße.«
»Aber rot!«
Keine Macht der Erde kann ihn dazu bewegen weiterzufahren. Verständlich. Rot heißt Stehenbleiben. Hab ich ihm so beigebracht. Mit weiteren Feinheiten braucht man jemandem in seinem Alter nicht zu
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