Schief gewickelt (German Edition)
teilt sich wie einst das Meer vor Moses. Und jetzt Taebs Bistro. Da! Ein Stuhl fliegt hoch und landet auf der Markise! Aber sonst scheint nichts passiert zu sein. Gretas Papa rast dem sicheren Sieg entgegen. Nicht einmal eine ganze Tagesration Neuköllner Hundehaufen könnte ihn bei dem Tempo noch stoppen.
Er überquert die Ziellinie! Eine Minute und … 2,4 Sekunden! Mehr als eine halbe Minute schneller als Daniels Pap… Oh, oh, was ist hier los? Gretas Papa bringt sein Bobby-Car nicht mehr zum Stehen. Er rast auf die Brunnenstraße zu und stemmt vergeblich seine Hacken aufs Pflaster … Spring ab, spring ab! … Und er springt im letzten Moment … Das Bobby-Car rast unkontrolliert auf die Brunnenstraße, aber Gretas Papa scheint unverletzt zu sein. Er steht wieder auf. Wir können durchatmen.
Ein Kleinwagen rast auf unser Sieger-Bobby-Car zu und kann nicht mehr ausweichen. Seis drum. Die kleine Greta wird diesen Verlust wohl angesichts des grandiosen Sieges ihres Papas verschmerzen können … Aber was ist das? Das Auto, das unser Bobby-Car gerammt hat, überschlägt sich und bleibt auf dem Dach liegen. Ein Aufschrei des Entsetzens geht durch die Menge … Wer soll das hier noch begreifen? Der Kleinwagen liegt auf dem Dach und dreht sich. Die Streckenposten eilen herbei, stoppen das Gekreisel und öffnen die Tür … Der Fahrer steigt aus. Er sieht benommen aus … aber er steht! Ein Hoch auf die Gurtpflicht, meine Damen und Herren! Und ich glaube, ich brauch jetzt erst mal einen Schluck …«
*
Wir sitzen erschöpft vor unseren Bieren in unserem Fahrerlager im Acud-Biergarten. Manche Fahrerfrauen kneten ihren Männern den Rücken. Simone wurde zwar leider noch zu einem wichtigen Meeting abberufen, aber es ist schon okay. Allein dass ich aus der stickigen Lederkluft rauskann, ist Erholung genug. Außerdem hält ein von Schnufti-Windeln gesponsortes Kaspertheater Daniel und die anderen Kinder in Schach.
Nach und nach dringen aktuelle Nachrichten und Hintergrundberichte zu uns durch. Herrn Baumers Bobby-Car war deswegen so irrwitzig schnell, weil er es mit Beton ausgegossen hatte. Gut 50 Kilo wiegt es, wie die unfallaufnehmenden Polizeibeamten festgestellt haben. Schwerer Körper + schräge Ebene + Physikunterricht 10. Klasse = Wir hatten alle nicht die geringste Chance gegen ihn.
Herr Baumer sitzt seit einer halben Stunde im Polizeiauto und wird verhört. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Mordversuch, Landfriedensbruch – keine Ahnung, was für Stricke sie ihm gerade alle daraus drehen. Hätte er sich natürlich denken können, dass er seine wildgewordenen 50 Kilo nicht rechtzeitig zum Stehen bringt. Und dass ein Kleinwagen, der mit vollem Tempo auf einen Betonklotz auffährt, ziemlich verschnupft reagiert, liegt natürlich auch auf der Hand. Trotzdem tut er mir erst einmal ganz schön leid. Wollte halt unbedingt gewinnen. Dummer kleiner Junge.
Die Juroren klettern aufs Podium. Es wird still. Zuerst das Urteil der Modejury. Die Modeprofessorin, eine fünfzigjährige Dame mit blonder Kurzhaarfrisur und randloser Brille, ergreift das Wort.
»Liebe Freunde des Sports!
Junge Männer und Mode, das geht nicht immer gut zusammen. Auch heute – wir wollen es nicht verschweigen – mussten wir das oft erkennen.«
Hat sie jetzt mich angeschaut? Ich könnte schwören, sie hat mich angeschaut.
»Umso erfreulicher fanden wir es, dass sich einer unter euch in einem Maße hervorgetan hat, wie wir es niemals erwartet hätten. Wir sind tief beeindruckt und verneigen uns vor einer Kreation, in der Banales und Sinnliches miteinander Tango tanzen, einer Schöpfung, in der Urkraft zu Stoff wird und Stoff zu Urkraft, einer Komposition, aus der das Lebensgefühl unserer Stadt herausstrahlt wie das Lachen des Dalai-Lama.«
Ich sehe mich vorsichtig um. Nein, die anderen gucken genauso verständnislos drein wie ich.
»Wir verneigen uns vor heldenhafter Souveränität, die anmutig und mit leichter Hand über den Teufel der Beliebigkeit triumphiert, vor einem Meisterwerk, in dem Farbe, Form und Material so einträchtig im gleichen Boot sitzen, dass uns die Tränen der Rührung kamen. Wir verneigen uns vor einer Kreation, deren Erschaffer alles hat, was man von einem großen Künstler – ja, ich sage ganz bewusst: großen Künstler – erwarten kann: Mut, Energie, Vision, Fingerspitzengefühl und eine gehörige Portion Genie. Wir verneigen uns vor – Ludger Baumer.«
Unsere Kiefer klappen so weit
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