Schiff der tausend Träume
weiß nicht, wie ich es ohne die Kleine geschafft hätte, die mir ein Trost war. Hazel ist meine kleine Helferin, und Ella sieht mir auch so aus. Wenigstens haben wir damit ein kleines Andenken an unsere Männer.«
May schaute Mrs Perrings an, als hätte sie die Frau noch nie gesehen, stand auf und ging hinunter an den Strand, wo die Kinder in Zweierreihen gingen, stehen blieben, um Muscheln zu sammeln und Fußabdrücke in den Sand zu stampfen.
Das Meer könnte ansteigen und sie alle ertränken, die Wellen könnten sich über ihnen brechen, und wieder hörte sie die Schreie der Sterbenden im Wasser, jenes qualvolle Rufen nach Gott und ihren Müttern, sie doch zu retten.
Hilfe!
Sie presste die Hände auf die Ohren, um die schrecklichen Stimmen auszublenden, eiskalte Gliedmaßen, die um sich schlugen, das Klatschen der Ruder auf dem Wasser, die das Boot von allen entfernten, die Hilfe brauchten.
Dann sah May ein paar Mädchen paddeln, die Röcke in ihre Unterhosen gesteckt, und weit draußen schwamm ein Mann, dessen Kopf auf der Wasseroberfläche auf und ab hüpfte, so wie bei Joe damals. Er war zu weit weg, um in Sicherheit zu sein. Der Mann ertrank wie Joe, und in Gedanken war sie wieder dort und versuchte, ihn einzuholen.
»Kehren Sie um, kehren Sie um! Seht doch, wir müssen ihm helfen!«, schrie sie. »Er ertrinkt!« Sie spürte, wie sie mit den Armen ruderte, um Joe zu erreichen, wie ihr kostbares Bündel abdriftete. Sie kreischte: »Holt ihn zurück, das Meer wird ihn holen … Bringt sie an Bord. Ellen … Joe … Wartet auf mich! Kommt zurück!«
Plötzlich legte sich ein Arm um sie. »Mrs Smith, Mrs Smith, Ihnen geht es nicht gut. Der Mann ist in Sicherheit, und die Flut läuft auf.«
May schüttelte den tröstenden Arm ab. »Nein … ich will meine Ellen … ich sehe sie nicht mehr.«
»Ella geht es gut, Mrs Smith. Sie müssen sich beruhigen, Sie erschrecken die Mädchen. Hören Sie sofort damit auf.« Die Stimme war jetzt strenger, eine Lehrerin, die sie vom Strand fortzog. »Kommen Sie mit mir. Sie brauchen etwas, um Ihre Nerven zu beruhigen.«
May schlug nach der tröstenden Hand, die sie zurückhielt. Sie sah die beiden noch vor sich.
»Ellen, komm zurück zu mir … Joe, komm wieder zu mir. Wartet, ich komme.« Sie rannte ins Wasser, platschend, gefühllos gegenüber der Kälte der Irischen See. Sie watete tiefer hinein, ohne auf die Stimmen zu achten, die sie zurückriefen. Sie musste die finden, die in der Dunkelheit jener grauenvollen Nacht nach ihr riefen. Sie gehörte zu ihrer Familie, nicht zu den Fremden hier.
Stärkere Arme zogen sie jetzt wieder ans Ufer. Sie kämpfte die ganze Zeit dagegen an, als wären es die Arme auf dem Rettungsboot, die sie aus dem Wasser zogen, fort von ihrem Kind und Joe. Jemand schlug ihr ins Gesicht.
»Reißen Sie sich zusammen, Frau! Ella ist in Sicherheit. Schauen sie, hier ist sie, Mrs Smith. Beruhigen Sie sich, ihr wird nichts zustoßen. Wir alle sind an diesem schönen Sommertag in Sicherheit. Ella wird Ihnen helfen.«
May starrte auf das dunkeläugige Kind, das entsetzt zu ihr aufschaute. »Ich will sie nicht. Sie ist nicht meine Tochter … Ellen liegt auf dem Grund des Meeres.«
»Mrs Smith«, rief eine Männerstimme, »Schluss mit dem Unsinn. Ihre Tochter steht gesund neben Ihnen. Das muss aufhören.«
»Das ist nicht meine Tochter«, beharrte sie, ihr wilder Blick wanderte prüfend über die dunklen Wimpern und die schokoladenbraunen Augen. Sie schüttelte den Kopf, mit einem Mal sehr schwach. »Das ist nicht mein Kind. Mein Kind ist tot.« Dann wurde etwas in ihren Arm gestochen, und sie wusste nichts mehr.
Ella hatte beobachtet, wie die Augen ihrer Mutter wild rollten, hatte ihre Schreie und das Platschen gehört, hatte gesehen, wie sich ihr neuer Rock voll Salzwasser sog, ihre Frisur sich auflöste und in tropfenden Rattenschwänzen herabhing. Sie hatte wie eine Hexe ausgesehen, eine furchteinflößende Hexe aus einem Bilderbuch. Als sie sich wütend an sie gewandt und ihre eigene Tochter verleugnet hatte, war Ella so schnell wie möglich von der Menge entsetzter Mädchen fortgelaufen, die verblüfft waren über das, was sie gerade miterlebt hatten. Angst, Scham und Wut ballten sich zu einer harten Kugel in ihrem Innern zusammen und spannten ihren Bauch so fest, dass sie am liebsten aufgeheult hätte. Was hatte sie getan? Was stimmte hier nicht? Warum war Mum so zornig und führte sich derart auf?
Der Tagesausflug ans Meer war jetzt
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