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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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Sohn mit sich genommen. Sie haben sich in London getroffen, und er behauptet, Roddy wolle mit ihm wieder nach Amerika. Das glaube ich nicht! Roddy hatte sich hier eingelebt. Wie konnte er mich derart hintergehen? Was habe ich mir bloß dabei gedacht, als ich ihn ohne Begleitung nach London fahren ließ? Er weiß doch nicht, was er da tut. Ich muss ihm sofort nach.«
    »Heute geht das nicht. Dein Vater wird beigesetzt, und du musst ihn bestatten, wie es sein Wunsch wäre. Das reicht für heute. Morgen sehen wir alles klarer. Komm, hier ist dein Kleid. Draußen scheint die Sonne, aber in der Kathedrale wird es kühl sein.«
    Selwyn befragte Polizisten und telefonierte mit seinem früheren Büro in Birmingham, um sich Rat zu holen. Er nahm tatsächlich alles in die Hand, als wäre es eine militärische Operation, und kommandierte sie herum. May hatte ihn noch nie so herrisch und entschieden gesehen, aber irgendjemand musste dieses führerlose Schiff steuern, und sie war froh, dass er wusste, wie man zu reagieren hatte.
    Roddy hatte seine amerikanische Staatsbürgerschaft in Anspruch genommen. Die Polizei sagte, sie könnten sich in diese private Auseinandersetzung nicht einmischen. Er sei aus freiem Willen fortgegangen und befinde sich jetzt in internationalen Gewässern, außerhalb ihrer Reichweite, in der Obhut seines leiblichen Vaters.
    Eine dumme Postkarte hatte gereicht, um seine Mutter niederzuwerfen. Darauf war ein Foto von der
Olymic
, dem baugleichen Schwesterschiff der
Titanic
. Ein Blick darauf, und Celeste war in der Diele ohnmächtig geworden. May hatte die Fassung behalten, als sie die Schornsteine und den Bug sah. Sie wollte dieses Bild nie wieder sehen und schob es außer Sichtweite. Dann traf der Brief von Mr Parkes ein, in dem er sein Anrecht auf Roddy geltend machte, als wäre sein Sohn ein verlorengegangenes Gepäckstück, und das alles am Tag der Beisetzung des Kanonikus.
    »Ausgerechnet auf diesem Schiff nimmt er ihn mit! Er wird meinen Sohn ruinieren, ihn zu einem Tyrannen erziehen. Grovers Mutter wird ihn haltlos verwöhnen. Ich muss ihn wieder bei mir haben.«
    Celeste war außer sich, aber May blieb bei ihr sitzen, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
    Mays nächste Aufgabe war es, die Gäste hinauszukomplimentieren, wenn sie den Eindruck bekam, dass sie sich mit ihren Beileidsbekundungen zu lange aufhielten. Wie sollten sie Roddys Abwesenheit erklären?
    Die Ortsansässigen hielten Celeste für eine Witwe, nicht für eine davongelaufene Ehefrau. Diese Nachricht würde im Kathedralenhof zum Tagesgespräch, wenn sie erst einmal bekannt würde. Je länger sie diese Situation also geheim hielten, desto besser. Und wer war besser darin, Geheimnisse zu wahren, als May Smith? Selwyn würde nichts sagen, und Ella musste streng dazu angehalten werden, keine Gerüchte in die Welt zu setzen.
    Celeste war froh um den dichten Trauerflor, der ihr Gesicht bedeckte, als sie den Sarg ihres Vaters in Empfang nahm. Die Orgel der Kathedrale erfüllte das Kirchenschiff, die Gemeinde erhob sich respektvoll, als sie hinter dem Sarg durch den Mittelgang schritten, und sie dachte wieder an den Tag der Beerdigung ihrer Mutter und alles, was danach passiert war.
    Wie konnte es geschehen, dass Roddy sie mir nichts, dir nichts verlassen hatte? Ihr einziger Sohn verschwand aus ihrem Leben, als wäre sie nichts. Wut und Kummer brannten in ihrer Kehle. Um ihren Vater zu trauern, war normal, aber der Gedanke, Roddy zu verlieren, war unerträglich. Er musste bestochen worden sein, betäubt von Grovers Aufmerksamkeiten. Ihr wurde übel, denn sie wusste nur zu gut, wie ihr Mann sie so leicht um den Finger gewickelt hatte. Roddy war ein unschuldiger, naiver Junge; wie würde er ohne sie drüben in Akron überleben? Wie würde er von einer Welt in eine andere wechseln? Er wusste nicht einmal, dass sein Grandpa tot war, und er war doch fast noch ein Kind, noch dazu eines, das sie belogen und alles vor ihm geheim gehalten hatte.
    Sie hatte in der Angelegenheit nur wenige Rechte. Selwyn erklärte ihr, sie sei von Gesetzes wegen noch immer eine verheiratete Frau. Ein Sorgerechtsstreit wäre in diesem Stadium zwecklos. Sie war voller Hass auf Grover und wütend über Roddy, der sie in eine so unmögliche Lage gebracht hatte. So hart hatte sie daran gearbeitet, sie zurück nach England zu bringen, und das war nun der Dank. Der Junge hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Grover wollte ihn als Trophäe, einen Sohn, den er

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