Schiff der tausend Träume
Dich anlernen können, aber Du warst eine Enttäuschung. Roderick wird nicht denselben Fehler machen. Ich werde ihm langsam unsere Art zu handeln beibiegen. Er wird bald lernen, was am besten für ihn ist.
Ich hoffe, Du leidest so, wie ich gelitten habe, als Du ihn vor vielen Jahren gestohlen hast. Fahr zur Hölle.
Grover Parkes
Wie soll ich damit leben? Celeste rang um Fassung. Wie kann ich den Gedanken überstehen, dass er so weit weg von mir ist? Wer wird diesen Schmerz von meinem Herzen nehmen? Warum habe ich ihn nur allein nach London fahren lassen? Und warum hat er die Briefe seines Vaters vor mir verborgen? Wie konnte ich nur so töricht sein, nicht zu ahnen, dass Grover versuchen würde, ihn zurückzuholen? Oh, mein Sohn, du armer, dummer Junge, du weißt nicht, was du getan hast.
Sie konnte sich keinerlei Hoffnungen machen, nichts, nur die Tage zählen, bis sie ihn wieder in ihren Armen hielt. Von jetzt an würde sie nur noch warten.
Dann schaute sie zum großen Westtor empor, das zu Ehren ihres Vaters offen stand. Etwas regte sich in ihr, und sie straffte die Schultern. So wahr Gott und die Heiligen meine Zeugen sind, ich werde nicht untergehen, ohne gekämpft zu haben. Abermals sah sie das riesige Schiff in jener schrecklichen Nacht im Wasser versinken. Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie war unsinkbar. Sie hatte den sicheren Tod überlebt. Irgendwie musste es einen Weg zu ihm zurück geben. Ganz bestimmt.
Dritter Teil Zerrissene Fäden
1922 – 1928
75
Nach Roddys Verschwinden fühlte sich Celeste monatelang untröstlich. Sie war unfähig zu jeder normalen Arbeit und vergrub sich in ihren Schmerz. May fürchtete schon, Celeste könnte ebenfalls in der Heilanstalt landen, wie einst sie selbst. Die ganze Welt schien auf den Kopf gestellt, und May trug nun allein die Verantwortung für den Haushalt, traf alle finanziellen Entscheidungen, schrieb Listen und verteilte Aufgaben, während Celeste wie in einer Seifenblase herumtrieb und sich für nichts anderes interessierte als Nachrichten aus Akron. Doch die kamen nur über Roddys Großmutter, die allein entschied, was sie an Celeste weitergab und was nicht, und sie dadurch nur noch mehr frustrierte.
Roddy geht es gut. Er kommt in der Schule gut zurecht, hat ein Fahrrad und ein eigenes Pferd, und er streift sehr gern mit seinen Freunden durch die Landschaft, also belästige ihn nicht mit Deinen Bitten, er möge zurückkehren. Er will es nicht. Die Briefe vom Anwalt helfen Dir in der Angelegenheit mit Grover auch nicht weiter, er wirft sie in den Müll. Du brauchst Dein Geld also nicht für die Anwaltsgebühren zu verschwenden. Roderick wird für immer hierbleiben und Dir zu gegebener Zeit schreiben.
Du hast diese Situation selbst verschuldet, indem Du vor Deinen Pflichten hier davongelaufen bist. Alles hat seinen Preis, meine Liebe. Alles hat seinen Preis …
»Wie können sie mir nur meinen Sohn wegnehmen? Sie haben ihn gegen mich aufgehetzt. Ich muss sofort hinfahren und ihn zur Vernunft bringen«, klagte Celeste händeringend.
Selwyn versuchte sie zu beruhigen. »Aber jetzt noch nicht … Es ist noch zu früh.«
»Ich werde verrückt, wenn ich hier sitzen und warten muss!«
»Dann raff dich auf und such dir etwas, wofür sich das Aufstehen lohnt«, riet er. Es war genau der Satz, den er vor einigen Jahren auch May gesagt hatte. Er selbst hatte wieder angefangen zu arbeiten, als Anwalt in Birmingham, wo er Kriegsveteranen vertrat, die dringend eine Unterkunft und medizinische Behandlung brauchten. Das Drama um Roddy hatte Selwyn aus seiner Lethargie gerissen, und May kam es so vor, als übernähme er zum ersten Mal seit Jahren wieder Verantwortung für sein Leben. Selbst das Trinken hatte er reduziert – und er kam lieber nach Hause und werkelte in seinem Schuppen herum. Manchmal nahm May sich einen Tee mit, setzte sich auf eine Bank und sah ihm dabei zu. Sie mussten nicht reden, um sich miteinander wohl zu fühlen, auch das gemeinsame Schweigen war beruhigend.
Im Gegensatz dazu erwies sich Celeste als sehr anstrengend, weil sie von einer Idee zur anderen sprang. Zum Glück kam ihr Freund Mr McAdam häufig vorbei und nahm sie zu einem Spaziergang mit, von dem sie ein wenig ruhiger zurückkehrte. May wünschte, sie hätte auch so einen Freund, der sich um sie kümmerte und sie schätzte. Joe war immer aufmerksam und freigebig mit Komplimenten gewesen. Manchmal fragte sie sich, ob Selwyn es wohl bemerkte, wenn sie sich extra hübsch für ihn
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