Schiff der tausend Träume
sein Vater ihn in seinen Fängen gehabt hatte? Ach, hätte sie ihn doch nur nicht allein fahren lassen!
In all diesen Monaten war May für sie da, stand ihr treu zur Seite und bot ihr eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Das galt auch für Archie, doch ihre Beziehung musste geheim bleiben.
Archie war ein alleinstehender Mann an einem theologischen Seminar, wo man sehr auf Moral achtete, und sie war immer noch eine verheiratete Frau, auch wenn sie getrennt lebte. Nach außen hin galt Archie als Selwyns Freund, damit über seine Besuche im Red House nicht getratscht wurde, aber alle wussten, dass er in Wahrheit ihretwegen kam. Er liebte sie. Sein Blick war stets voller Bewunderung, und das gab ihr Kraft weiterzumachen, wenn sie der Schmerz über Roddys Abwesenheit zu sehr quälte.
Er schien ihren Kummer jedes Mal zu spüren und legte dann sanft seine Hand auf ihre. Er hatte seine Frau verloren und im großen Krieg viel Leid erlebt. Er war ihr Fels in der Brandung. Dennoch konnte es für sie keine gemeinsame Zukunft geben. Wie auch, solange Grover sie nicht gehen ließ oder sie nicht selbst versuchte, die Scheidung einzureichen? Einen solchen Schritt wagte sie jedoch nicht, denn sie wollte nicht riskieren, den Kontakt mit ihrem Sohn gänzlich zu verlieren; ihr ganzes Glück hing von ihm ab. Eines Tages würde er zu ihr zurückkehren … Eines Tage wäre dieser Albtraum vorbei.
Bis dahin würde sie anderen Familien helfen, deren Kinder herumreisen mussten. Bei ihr würde kein Kind je verlorengehen. Was sie für Roddy nicht mehr tun konnte, wollte sie für ihre jungen Schützlinge tun. Außerdem hegte sie die stille Hoffnung, dass Miss Fort sie eines Tages jemanden über den Ozean in die Staaten begleiten ließe. Das wäre ihre große Chance, aber bis dahin machte sie das Beste aus dem, was sie hatte.
78
Ella liebte es, den Steinmetzen bei der Arbeit zuzusehen. In Quonians Yard restaurierten Bridgeman & Sons Mauerteile und erstellten neue Ornamente für beschädigte Dächer von Kirchen und Kathedralen. Sie hatten auch die Front der Kathedrale mit ihren schönen Statuen und verzierten Bögen restauriert. Wenn Ella die einzelnen schön gestalteten Stücke begutachtete, die im Hof standen und darauf warteten, verpackt und durchs ganze Land, ja, bis ins Ausland verschifft zu werden, spürte sie die Kunstfertigkeit und das handwerkliche Können, die über Generationen hinweg überliefert worden waren.
Manchmal trödelte sie mit ihren Einkäufen, nur um sehen zu können, wie sie den Stein schliffen und ihn mit alten Werkzeugen vorbereiteten. Sie sehnte sich danach, ebenfalls derart kraftvolle Arbeit mit ihren Händen verrichten zu können.
Die Mädchen auf der Oberschule zogen sie mit ihrer eingeklebten Bildersammlung in den Skizzenbüchern auf – Fotos und Bilder, die sie aus Zeitschriften, Zeitungen und Postern ausgeschnitten hatte. Nun, da sie eine eigene Fotokamera besaß, konnte sie alles im Bild festhalten, was ihr gefiel. Sie hatte Kirchen besucht und Postkarten von der Kunstgalerie in Birmingham gekauft, wo sie sich insbesondere für Frauen in der Kunstwelt interessiert hatte, einschließlich der viktorianischen Steinmetzin, die bei den Statuen an der Westfront der Kathedrale geholfen hatte. Sie hatte sich Notizen über Kathleen Scott und Captain Smiths Statue gemacht, bis Hazel es nicht mehr aushielt, noch länger davorzustehen.
Hazel war immer noch ihre beste Freundin. Sie gingen zusammen zur Oberschule, wobei Hazel sich mehr für Naturwissenschaften interessierte und in der Kunst nicht viel Sinn erkennen konnte. Skeptisch hatte sie Ellas Figur begutachtet. »Du wirst Arme wie ein Boxer kriegen, wenn du Skulpturen erstellst«, warnte sie.
»Das ist mir egal«, erwiderte Ella. Sie würde Bildhauerin werden, und wenn es das Letzte wäre, was sie täte. Zuerst jedoch musste sie alles über die großen Meister lernen, über die Arbeitsweise früherer Künstler, aber auch über die heutigen, die ihre Werke hin und wieder in Kunstgalerien ausstellten. Sie musste sich mit Anatomie beschäftigen, Schädelknochen und Muskulatur studieren. Es war alles ein großes Mysterium, aber sie fand es herrlich aufregend. Würde sie je nach Rom oder Florenz reisen können oder Rodins Werke in Paris sehen?
Ella konnte es kaum erwarten, von der Schule abzugehen und ins richtige Leben einzutauchen, wo Menschen ihre Kunst auslebten und Freiheit zum Experimentieren hatten. Ihre eigenen kläglichen Versuche im Schuppen
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