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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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am Ende des Gartens waren dumme, ungenügende Modelle von Gesichtern, die sie am liebsten zerschlagen hätte. Doch das Material war teuer, und ihre Mutter hasste Verschwendung.
    Ella liebte Gesichter: die Kraft und Magie verhärmter Gesichter, Wangenknochen, krumme Nasen – all die besonderen Merkmale, die einem einfachen Gesicht etwas Außergewöhnliches verliehen. Sie staunte immer wieder, wie ein Klumpen Gips in eine dauerhafte Form verwandelt werden konnte.
    Gemälde liebte sie ebenfalls, am meisten jedoch Porträts. Sie hatte sich zum Geburtstag einen Totenkopf gewünscht, hatte aber mit einem Schafsschädel vorliebnehmen müssen. Es war wichtig, die Knochen und Formen in einem Kopf zu spüren, um die Form nach außen hin aufzubauen.
    Es machte ihr fast Angst, wie sehr sie sich danach sehnte, Kunst zu studieren und selbst Kunstwerke zu erschaffen. Wäre sie kräftig genug, um größere Bronzefiguren zu gießen? Sie war schlank und sehnig, aber nicht sehr groß, und vom Körperbau her vermutlich eher als Tänzerin geeignet denn als Bildhauerin oder Steinmetzin.
    Mehr als alles wollte sie von der Schule ab- und zur Kunsthochschule gehen, aber ihre Mutter wollte nichts davon hören.
    »Nach all den Gebühren und allem, was du gelernt hast, musst du jetzt dabeibleiben und deine Abgangszeugnisse abwarten. Du musst eine gute Berufsausbildung haben für den Fall, dass schwere Zeiten kommen … als Lehrerin oder Sekretärin … oder an einer dieser neuen Rechenmaschinen.«
    »Aber ich will nicht in einem Büro arbeiten.«
    »Dann vielleicht als Krankenschwester …«, schlug May vor.
    »Ich will auch keine Krankenschwester werden. Ich würde die Patienten versehentlich noch umbringen.«
    »Werd nicht frech, junge Dame. Du tust, was ich dir sage. Es gab schon genug Menschen hier im Haus, die nicht wussten, wie gut sie es eigentlich hatten«, schnaubte Mum und blickte zu den Fotos auf dem Kaminsims.
    Von Roddy wurde nie direkt gesprochen. Er war ein stummer Geist in der Zimmerecke – stets präsent, doch nie erwähnt. Er war ungehorsam gewesen und hatte seiner Mutter das Herz gebrochen. Die Warnung war deutlich: Sie durfte ihrer Mutter nicht dasselbe antun.
    Mum und Onkel Selwyn führten jetzt im Haus das Regiment – eine denkbar kuriose Verbindung! Tante Celeste war ständig auf Reisen, und die beiden zankten sich oder aßen zusammen wie ein altes Ehepaar. Onkel Selwyn war ein wenig umgänglicher geworden, aber am liebsten ging er immer noch zum Schweißen in seinen Schuppen. Dort war es gewesen, dass Ella die geniale Idee bekam, Skulpturen aus Metallstücken zu fertigen. Wenn sie das Metall doch nur in Form schweißen könnte wie Giacometti, hatte sie gedacht.
    Am Anfang hatte Selwyn abgelehnt, als sie ihn bat, es ihr zu zeigen, aber mit viel Bettelei hatte sie ihn schließlich überreden können, ihr die Grundtechnik beizubringen. Zunächst hatte sie ihn mit einem Schutzglasschirm und in gebührendem Abstand zu den Funken nur beobachten dürfen. Die Arbeit war heiß und anstrengend, aber eine gute Übung dafür, geschmolzenes Metall in Gussformen zu bringen, wenn sie später einmal richtige Büsten oder größere Arbeiten fertigen wollte.
    Dann war ihre Mutter mit einer Tasse Tee gekommen, hatte sie beide erwischt und Selwyn wütend angeschrien. Und er hatte geflucht, weil sie sich einmischte.
    »Um Himmels willen, du eigensinnige Frau, siehst du denn nicht, dass das Kind Eifer und Enthusiasmus zeigt? Sie hat großartige Ideen. Was sind schon ein paar Brandblasen an den Händen …? Lass sie ruhig etwas lernen, das Blut, Schweiß und Tränen kostet. Sei nicht so dumm und setze ihren Träumen Grenzen!«
    »Nenn du mich nicht dumm, Selwyn Forester! Ich weiß, dass sie klüger, hübscher und talentierter ist als wir beide zusammen. Du hast aber kein Recht, sie in Gefahr zu bringen. Das ist keine Arbeit für ein Mädchen.«
    »Im Krieg war es das aber – oder hast du die Frauen vergessen, die Stahl und Munition für uns hergestellt haben?«
    Ella ließ die beiden in der Werkstatt allein. Sie hasste es, wenn sie ihretwegen stritten. Roddy wäre jetzt mit ihr durch den Garten gegangen, um sie abzulenken und zum Lachen zu bringen. Er fehlte ihr.
    Sie stürmte in ihren Schuppen, fand ihr letztes Stück leeres Papier und begann in heißer Wut das Bild zu zeichnen, das sie vor Augen hatte: Selwyns verhärmtes Gesicht über dem Schweißgerät, ihre eigenen glühenden Wangen hinter dem Schutzglas. Vor ihrem geistigen Auge

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