Schiff der tausend Träume
etwa, wenn sie das Haustier einer reichen Dame zum Tierarzt bringen und seine Krallen schneiden lassen musste, manchmal auch aufwendiger, wenn sie einer frisch verheirateten Ehefrau beim Kauf von Möbeln bei Rackhams oder Beatties helfen sollte. Touristen auf Shakespeares Spuren nach Stratford oder zu Anne Hathaways Haus zu begleiten, war in dieser Jahreszeit häufig gefragt. Es gab herrliche Landgasthöfe im Tudorstil mit wunderbaren Himmelbetten und Eichenbalken, die die Amerikaner ebenso liebten wie die herzhafte englische Verpflegung.
»Sie kommen irgendwo von den Great Lakes … aus Ann Arbour, glaube ich … Sie sind ganz wild auf Mr Shakespeare und wollen die große Tour mit gutem Hotel und Reiseführer, das Übliche, aber nur für zwei oder drei Tage, denn sie wollen auch noch nach Edinburgh und zum Münster in York. Dann natürlich noch nach Paris, und da Sie ja früher in den USA gelebt haben …«
»Überlassen Sie das alles ruhig mir, Miss Fort«, sagte Celeste. »Ich werde im Voraus buchen und einen Terminplan erstellen, der Ihrem Budget entspricht.«
»Es gibt kein Budget – für die Stimpsons nur das Beste. Wenn ich es recht verstanden habe, verdient er ein Vermögen mit Getreideflocken. Ich bin so froh, dass wir Sie da oben im Norden haben und Sie sich um alles kümmern, Celestine. Sie sind ein echtes Goldstück! Als Sie zum Vorstellungsgespräch kamen, habe ich gleich gemerkt, dass Sie sehr vielseitig sind. Sie haben keine Vorstellung davon, wie viele Bewerberinnen für
Universal Aunts
völlig ungeeignet sind. Wir sind sehr wählerisch in unserer Auswahl, und Ihre Aufträge waren bisher einwandfrei. Aus den Berichten geht hervor, dass die Kinder ausdrücklich nach Ihnen verlangen.«
»Danke, Miss Fort.« Celeste strahlte. Sie liebte ihre Arbeit, die sie auf Trab hielt und davon ablenkte, zu viel über Roddy nachzudenken und wie es ihm bei seinem Vater erging. Dennoch war ihr Sohn für sie stets gegenwärtig.
»Dann will ich Sie nicht weiter von Ihren Vorbereitungen abhalten. Ich freue mich auf Ihren Bericht.«
Celeste war in ihrem besten Tweedkostüm zur Agentur von
Universal Aunts
in der Nähe des Sloane Square gegangen. Man hatte ihr Fragen über ihr Leben und ihre bisherige Berufserfahrung gestellt, aber als sie sagte, dass sie eine Überlebende der
Titanic
, mit Margaret Brown befreundet und Mitglied in ihrem Hilfskomitee für Frauen sei, wurde das Bewerbungsgespräch augenblicklich abgebrochen.
»Wir würden uns sehr geehrt fühlen, wenn Sie bei uns arbeiteten.«
Bislang hatte sie Dutzende quengeliger Kinder von Birmingham, Wolverhampton oder Stafford zu ihren neuen Internaten quer durchs Land begleitet und umgekehrt. Mit Roddy hatte sie früher dasselbe gemacht – sie sorgte dafür, dass ihre Vorratsdosen gefüllt waren, dass sie ausreichend Spiele, Verpflegung, Comic-Hefte und Zeitschriften für die Reise dabeihatten, die sie dann hoffentlich ablenken und beruhigen würden.
Alle Vierteljahre musste sie eine Buchungsgebühr in Höhe einer halben Krone zahlen, um über die Agentur vermittelt zu werden, aber das Geld war gut angelegt. Es brachte sie aus dem Haus und in Kontakt mit Fremden, die nichts über ihre Sorgen wussten. Doch in jedem Kind, das sie betreute, sah sie etwas von ihrem eigenen Sohn.
Sie konnte kaum fassen, dass der schreckliche Tag, an dem Roddy sie verlassen hatte, nun fast ein Jahr her war. Ein Jahr voll kühler Korrespondenz mit höflichen, behutsamen Nachfragen bei Harriet. Sie würde nie wieder an Grover direkt schreiben, nicht nach dem, was er getan hatte. Sie fürchtete, die Fassung zu verlieren und ihn zu beschimpfen, was die Sache sicher nur noch schlimmer machen würde.
Roddys Briefe waren kurz und zurückhaltend. Sie spürte, dass er darum kämpfte, in seinem neuen Leben in Amerika zurechtzukommen, und die Fotografien, die er beilegte, zeigten, wie schnell er groß wurde. Mittlerweile war er den kurzen Hosen entwachsen und hatte lange Beine bekommen. Sie sehnte sich danach, ihn zu besuchen, aber sie wusste, dass es den schwer erkämpften Waffenstillstand zwischen ihr und Grover wieder brechen könnte. Sie musste vorsichtig sein, abwarten und Grover bei Laune halten. Dennoch hatte sie das Gefühl, als Mutter versagt zu haben. Bestimmt hatte sie ihrem Sohn nicht genug geboten – warum sonst hatte er sich für den Menschen entschieden, vor dem sie ihn all die Jahre hatte beschützen wollen? Oder hatte er sich gar nicht mehr entscheiden können, sobald
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