Schiff der tausend Träume
hatte sich auf seine Seite geschlagen.
»Ich wünschte, ich wüsste, was Roddy jetzt für Talente zeigt. Seinen Briefen nach zu urteilen, scheint er nur Football zu spielen und zu wandern. Du musst der Wohlfahrtsbehörde schreiben und um einen Zuschuss für ihre Ausbildung bitten. Es steht ihr zu …«
Bei ihren Worten bekam May Schuldgefühle. Sie zog ein Kind groß, das gar nicht das ihre war, während Celeste der eigene Sohn geraubt worden war. Was für eine seltsame Verkehrung der Schicksale.
All die Diskussionen zermürbten ihren Widerstand, so wie steter Tropfen den Stein höhlt. Schließlich warf Ella ihre Schuluniform zum letzten Mal in den Wäschekorb und bekam ein praktisches Kleid, das sie allerdings nur einen einzigen Tag lang trug, bevor sie nach einem Malerkittel verlangte und sich eine alte Latzhose der weiblichen Landstreitkräfte anzog.
An einem schönen Herbstnachmittag, eine Woche, nachdem Celeste Richtung New York in See gestochen war, fuhr May in ihrem neuen, nur halblangen Rock mit dem Fahrrad in die Stadt. Selwyn arbeitete in Birmingham, so dass sie zur Abwechslung einmal Zeit für sich hatte. Auf dem Fahrrad in der frischen Luft fühlte sie sich frei. Sie hatte den Fahrradkorb mit Einkäufen gefüllt, und als sie mit Rückenwind zurückradelte, hatte sie das Gefühl zu fliegen. Es fühlte sich gut an, frei zu sein! Am Abend wollte sie einen Lancashire-Auflauf kochen. Während sie überlegte, ob sie genug Kartoffeln für die oberste Schicht zu Hause hatte, achtete sie eine Sekunde lang nicht auf die Straße, fuhr gegen einen Stein, stürzte krachend zu Boden und schürfte sich die Wade am Kantstein auf. Sofort eilten Passanten zu Hilfe. May saß noch einen Moment lang benommen am Straßenrand und kam sich dumm vor. Die Wunde war nicht allzu tief, also tupfte sie Blut und Kies mit einem Taschentuch ab, stieg wieder aufs Fahrrad und fuhr nach Hause, um sich mit einer Tasse Tee vom Schreck zu erholen.
80
Akron
»Ich habe einen Brief von deiner Mutter erhalten, Roderick. Sie besucht irgendjemanden in Boston und will auch zu uns kommen. Wir müssen Vorbereitungen treffen.« Grandma Harriet wedelte mit dem Brief vor seinem Gesicht, ohne zu ahnen, dass er bereits über den Besuch seiner Mutter informiert war. Sie hatte ein Telegramm geschickt, und sein Vater war danach ausgesprochen schlechter Laune gewesen. »Ich habe dieser Frau gesagt, dass sie hier nicht willkommen ist.«
»Aber sie muss den Jungen sehen. Das ist nur fair«, hatte Großmama später kommentiert, woraufhin sein Vater sie weggescheucht hatte, als würde er eine Fliege vom Revers wischen.
»Sie wird dieses Haus nicht betreten. Was sollen die Leute denken?«
»Sie kann auch in der Stadt in einem Hotel wohnen. Und sie wird so viel Zeit wie möglich mit Roderick verbringen wollen – gewiss nicht mit dir«, hatte Harriet bissig erwidert, was so gar nicht ihre Art war, denn normalerweise schlich sie vorsichtig um ihren Sohn herum, witterte seine schlechten Launen und hielt sich von ihm fern.
»Wusstest du davon, Junge?«, wandte Grover sich nun an Roddy und sah ihn eindringlich an. »Hast du das eingefädelt?«
Roddy schüttelte den Kopf. »Aber ich würde sie gerne sehen, Sir.«
Er merkte, wie sein Vater bei dieser höflichen Anfrage weich wurde. »Nun, wenn es sein muss … Aber übertreib es nicht mit der Wiedersehensfreude. Ich traue ihr nicht, und ich will sie nicht sehen. Sie wird in Mutters Flügel wohnen und darf kein anderes Zimmer dieses Hauses betreten. Ich will nicht, dass Louella belästigt wird.«
»Dann solltest du dich von deiner Frau scheiden lassen und das Mädchen heiraten. Sie ist doch sowieso ständig hier«, kommentierte Harriet.
»Halt deine Zunge im Zaum, altes Klatschweib. Eine Scheidung bedeutet Gerichtsverhandlungen, Aufsehen in der Öffentlichkeit und Kosten. Alles bleibt so, wie es ist. Das macht einen besseren Eindruck.«
Fassungslos starrte Roddy seinen Vater an. Es hatte eine Zeit gegeben, da er unbedingt so sein wollte wie er. So sehr sein Sohn sein wollte. Doch mehr und mehr erkannte er, was für ein Mensch er wirklich war. Nichts, was Roddy je tat, war in seinen Augen gut genug. Und wie konnte er es wagen, so mit seiner eigenen Mutter zu sprechen? Roddy hoffte, dass er selbst seine Mutter nie so angefahren hatte wie sein Vater es bei Grandma Harriet tat. Er spürte, dass er seinen Vater enttäuschte; seine Noten waren nur durchschnittlich, seine sportlichen Leistungen gut, aber nicht
Weitere Kostenlose Bücher