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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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sah sie ein. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, das Bein ein wenig auszuruhen. Vielleicht befand sich noch etwas Schmutz darin. Inzwischen sah die Wunde aus wie eine große lila Spinne, deren Beine sich in alle Richtungen ausstreckten und ihren Oberschenkel hinaufkrochen. Und das alles nur, weil sie vom Fahrrad gefallen war! Sie verstand nicht, wie ein so kleiner Kratzer sie so krank machen konnte. Aber der Arzt hatte recht, sie hätte viel eher kommen müssen, bevor es sich entzündete. Doch im Krankenhaus würde man ihr helfen, und ihr Leben könnte bald wieder normal weitergehen.

82
    Oktober 1926
    Ella liebte das College. Jeder Tag war neu und aufregend und ganz anders als alles, was sie je erlebt hatte. Es gab eigene Studien zum Betrachten von Umriss und Form von Objekten. Im Skulpturunterricht saßen sie stundenlang und betrachteten Skulpturen, um anschließend das Gesehene zu Papier zu bringen. Sie lernten, mit traditionellen Werkzeugen zu arbeiten und wie man seine Idee auf einen Steinblock übertrug, um die im Stein verborgene Form zu ergründen.
    Sie hatte sogar schon versucht, einen Kopf aus Lehm zu formen, nachdem sie zunächst einen ihrer Studienkollegen gezeichnet hatte, fasziniert davon, dass jeder Kopf einzigartig war. Vor allem aber gab es die Arbeiten anderer Künstler zu bewundern, von Lehrern, die selbst berühmt waren und deren Werke an den Wänden hingen und sie von den Sorgen um ihre Mutter im Krankenhaus ablenkten.
    Zur Besuchszeit fuhr sie mit dem Bus ins Krankenhaus und fand Onkel Selwyn mit ernstem Gesicht vor dem Krankenzimmer stehen. »Deine Mutter hat hohes Fieber, und sie versuchen, es zu senken. Manchmal redet sie unverständliches Zeug, aber hab keine Angst, ich bin sicher, es wird bald besser. Sie haben sie in einen extra Raum verlegt.«
    Mit ihrer von Kunst beflügelten Stimmung war es schlagartig vorbei, und die gute Laune wich nagender Furcht. Mum lag nun schon eine Woche im Krankenhaus, und wie es schien, ging es ihr eher schlechter als besser. »Kann ich hineingehen und sie sehen?«
    »Vielleicht erkennt sie dich nicht; Fieber schlägt manchmal auf die Wahrnehmung«, warnte er sie.
    Trotzdem war Ella auf die Veränderung bei May nicht vorbereitet. Sie schien noch weiter aufgedunsen zu sein. Die Schwester lächelte und führte sie ans Bett. »Ihre Mutter schläft. Wir halten sie kühl.«
    »Wird es ihr bald bessergehen?«
    »Im Moment geht es ihr sehr schlecht. Ich fürchte, die Infektion hat ihren ganzen Körper in Mitleidenschaft gezogen, aber wir tun alles, um sie zu bekämpfen. Sie müssen tapfer sein.«
    Als sie die Stimmen hörte, sah ihre Mutter mit glasigem Blick um sich und starrte Ella an, als wisse sie nicht genau, wo sie sei.
    »Ich bin es, Mum. Ich bin hier.«
    May schüttelte den Kopf. »Du solltest nicht hier sein, für Besuche bin ich nicht gesund genug. Geh nach Hause. Dein Tee steht auf dem Tisch, und sag Celeste, dass ich sie sehen will. Es wird nicht besser, also sagst du lieber auch Joe Bescheid. Ich will Joe sehen … Wo sind Joe und Ellen?«
    »Das macht das Fieber«, sagte die Schwester und tupfte May über die Stirn.
    »Onkel Selwyn hat mich schon vorgewarnt«, sagte Ella und versuchte, tapfer zu sein und nicht zu zittern. Die Worte ihrer Mutter erinnerten sie an den einen Tag am Meer vor all den Jahren, als sie diesen Anfall bekommen hatte und in St. Matthew’s gelandet war. Aber irgendwie war das hier schlimmer. »Sie wird doch wieder gesund werden, ja?«, fragte sie noch einmal nach.
    »Wir tun, was wir können. Und mit Gottes Hilfe …«
    Bald darauf schlief ihre Mutter wieder ein, und Ella schlich aus dem Zimmer. Als sie Selwyn sah, brach sie in Tränen aus. »Wer ist Ellen?«, schniefte sie, verletzt, dass May kein einziges Mal nach ihr gefragt hatte. »Mum hat nach Joe und Ellen verlangt.«
    »Du bist Ellen«, sagte er.
    »Aber ich bin doch Ella.«
    »Das ist die Kurzform für Ellen, wusstest du das nicht?«
    »Sie hat mich noch nie Ellen genannt. Ist das wirklich mein Name?« Sie verlor für einen Augenblick die Fassung – es war, als spräche sie über eine fremde Person.
    »Frag mich nicht. Es wird auf deiner Geburtsurkunde stehen. Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht ganz bei Sinnen ist.«
    »Wird sie sterben?« Ella hoffte inständig, er möge ihr widersprechen.
    Doch Selwyn schwieg lange und sah sie freundlich an. »Die Infektion fließt in ihrem Blut, und das ist nicht gut. Im Krieg habe ich das bei einigen meiner Männer

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