Schiff der tausend Träume
spektakulär. Niemals lobte sein Vater ihn, ja, im Grunde lobte er überhaupt niemanden. Entsetzt hatte Roddy feststellen müssen, dass er diesen Mann überhaupt nicht leiden konnte. Er war der Dienerschaft gegenüber rücksichtslos und streng, er malträtierte die Hunde und auch Louella, wenn er zu viel getrunken hatte.
Wenn er schlechter Stimmung war, verhielt man sich am besten unauffällig. Gut, er arbeitete viel, und es waren harte Zeiten für die Diamond Rubber Company. Sie hatten mittlerweile viel Konkurrenz in der Stadt. Es gab Streit im Vorstand; Roddy hatte hitzige Diskussionen am Telefon mit angehört, und die Vorstellung, eines Tages ebenfalls in dieses Haifischbecken eintauchen zu müssen, erschien ihm nicht besonders verlockend. Aber es war das, was sein Vater von ihm erwartete, und er würde keine andere Wahl haben, als seinem Wunsch zu entsprechen.
Roddy liebte sein Leben an der frischen Luft. Seine Streifzüge in die Natur wurden immer mehr zu einer Flucht vor der kalten Atmosphäre im Haus. Was würde seine Mutter von ihm denken? Hatte sie ihm vergeben, dass er sie verlassen hatte? Der Junge, der damals mit der
Olympic
davongesegelt war, schien ein ganz anderer gewesen zu sein als er. Dieser dumme Schuljunge, der der Liebling seines Vaters hatte sein wollen, war längst verschwunden. Er spürte, dass er sich seinem Vater eines Tages würde entgegenstellen müssen. Doch Grover war ein großer Mann mit großen Fäusten. Ein- oder zweimal hatte Roddy bereits eine Ohrfeige verpasst bekommen, als er ungehorsam gewesen war.
Und nach dem letzten Mal war ihm dann aufgefallen, was hier fehlte, etwas, das er im Red House als selbstverständlich hingenommen hatte. Es waren Liebe, Toleranz und das Gefühl von Sicherheit. Genau darin lag der Unterschied zwischen einem Haus und einem Zuhause. Selwyn mit seiner Courage und ruhigen Art; Archie McAdam mit seinem Interesse für Bildung – diese Männer zeigten Mitgefühl. Und seine Mutter liebte ihn einfach so, wie er war, und nicht für etwas, was er einmal werden könnte.
Sein Vater liebte niemanden außer sich selbst, und Roddy war nicht sicher, ob er überhaupt wusste, was Liebe war. Er schenkte Louella Broschen und Armbänder und führte sie in teure Restaurants aus, aber das war keine Liebe. Dabei ging es nur darum, etwas Schönes zu besitzen.
Jetzt konnte er nur hoffen, dass er durch die Rückkehr zu seinem Vater in die Staaten die Liebe und Hingabe seiner Mutter nicht ganz und gar verloren hatte. Mom hatte einmal gesagt, Liebe sei wie ein überfließender Becher, der sich immer wieder von selbst auffülle und nie leer werde. Er hoffte, dass es stimmte. Der nun anstehende Besuch würde es entweder beweisen oder widerlegen.
81
Die Wunde an Mays Bein wollte einfach nicht heilen. Sie juckte fürchterlich, und May kratzte sie immer wieder auf. Sie probierte es mit dem altbewährten Brotwickel, um die Infektion herauszuziehen, und schmierte sie zum Abdecken mit Gänseschmalz ein, aber sie wurde immer heißer und schwoll an, und ihr Bein wurde ganz steif. May versuchte es zu ignorieren, doch als Selwyn sie humpeln sah, bestand er darauf, sie zu Dr. Howman zu fahren. Der Arzt warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte sofort, das gefalle ihm nicht.
»Wie lange ist das schon so heiß und geschwollen?«
»Zwei oder drei Wochen, glaube ich«, antwortete May.
»Juckt das nicht ganz entsetzlich?« Vorsichtig betastete er die Wunde und spürte die Hitze, die sie ausstrahlte.
»Ein bisschen«, gestand May. »Ich hätte nicht dauernd dran herumkratzen sollen, oder?«
»Nein, das hätten Sie nicht. Aber Sie müssen eine wahre Heldin sein, dass Sie das so lange ausgehalten haben. Ich möchte, dass Sie ins Krankenhaus gehen. Sofort. Wir müssen die Infektion bekämpfen.«
»Aber es ist doch nur ein Kratzer«, protestierte sie.
»Überlassen Sie die Beurteilung lieber mir, Mrs Smith. Die Infektion kriecht das Bein hinauf. Sie hätten viel früher zu mir kommen müssen. Ich gebe Ihnen einen Brief mit. Je eher Sie in die Klinik an der Sandford Street gehen, desto früher können wir mit der Behandlung beginnen.«
May wunderte sich über die ganze Aufregung. Gut, sie fühlte sich ein wenig fiebrig, aber nicht so schlimm, dass sie ein Krankenhausbett beanspruchen musste.
Gerade jetzt, wo Celeste fort war, gab es so viel zu tun. Selwyn und Ella müssten allein zurechtkommen. Die Wunde an ihrem Bein war lästig, konnte aber offenbar nicht von allein heilen, das
Weitere Kostenlose Bücher