Schiff der tausend Träume
zu mir zurückkehrst.« Celeste seufzte. »Es tut mir leid, dass wir dein Leben so kompliziert gemacht haben. Du hast natürlich recht – eine solche Entscheidung treffen zu müssen, ist nicht fair. Ich werde das auch nie wieder von dir verlangen. Du musst deinen eigenen Weg gehen, wie May immer sagt. Ich möchte nur, dass du glücklich und zufrieden bist. Ich weiß, dass ich egoistisch bin. Du hast mir in den letzten Jahren so gefehlt, aber es wäre falsch, von dir zu erwarten, dass du für einen von uns Partei ergreifst. Das kann ich dir nicht zumuten. Und ich sehe, dass du sehr wohl in der Lage bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen, wenn die Zeit dafür reif ist. Lass dich nur auf keinen Fall zu etwas drängen, was du nicht willst, versprichst du mir das?«
Auf einmal war alles zwischen ihnen so ernst geworden. Roddy fühlte sich überrumpelt. Wie sollte er auf diese Predigt reagieren? Er hatte seltsame Dinge gehört, auf die er nicht vorbereitet gewesen war. Eigentlich war er ganz überzeugt, er werde schon zurechtkommen, wenn er hier in Akron bliebe. Ihm fehlte es an nichts, und in der Fabrik gab es für ihn eine Zukunft, wenn er sie denn wollte. Im Moment wollte er bestimmt nicht nach Lichfield zurückkehren, doch ihre Worte beunruhigten ihn. Er wollte nicht Auslöser für ihren Streit sein. Es hatte eigentlich nichts mit ihm zu tun, aber irgendwie doch. Er wollte jetzt einfach nur das Thema wechseln.
Warum, fragte er sich, heirateten Menschen und stritten sich dann über irgendwelche unbegreiflichen Dinge? Im Moment wollte er am liebsten einfach in Ruhe gelassen werden und sich keine Gedanken um das machen, was um ihn herum passierte. Gut, es gefiel ihm nicht, wie sein Vater manchmal mit Grandma Harriet umging, und er fühlte sich auf seltsame Weise für sie verantwortlich. Seine Mutter war schließlich auch ohne ihn zurechtgekommen. Sie hatte noch ihren Bruder und May und Archie.
Es lag ihm viel daran, dass der Besuch seiner Mutter erfreulich verlief. Er war erleichtert, dass sie sich noch gut verstanden. Trotzdem waren sie sich in manchem auch fremd geworden. Sie zu sehen, war verwirrend, es weckte Sehnsüchte und Erinnerungen in ihm, aber er gehörte jetzt hierher und würde auch hierbleiben.
85
November 1926
May spürte, dass sich jemand über ihr Bett beugte, doch sie konnte kaum die Augen öffnen. Was passierte mit ihr? Sie lag vollkommen erschöpft im Bett und wollte nichts als schlafen. Jeder Atemzug war ein Kampf. Tag und Nacht wurde sie betreut, aber alles, was sie wollte, war allein zu sein und zu schlafen.
Die arme Ella musste nun ohne sie zurechtkommen. Celeste würde sie nie allein lassen, aber sie war so weit weg. Wie sehnte sie sich danach, das liebe Gesicht der Freundin zu sehen, ihre tröstende Hand zu halten. Sie musste sich unbedingt noch etwas von der Seele reden. Ehe es zu spät war.
Diesen Kampf würde sie nicht gewinnen. Um das zu wissen, braucht sie keinen Arzt mehr. Aber es tat ihr nicht leid. Endlich würde sie Joe und Ellen wiedersehen. Es würde nicht mehr lange dauern, dachte sie im Dahindämmern zwischen Wachen und Schlafen.
Sie hatte eine Lüge gelebt und wollte ihrem Schöpfer nicht gegenübertreten, ohne vorher jemandem zu beichten, dem sie vertraute. Und das war kein Priester oder Arzt. Es musste jemand sein, der helfen könnte, irgendeine Lösung für das Dilemma zu finden. Es gab nur einen Menschen, dem sie voll und ganz vertraute. Der arme Selwyn, der sie jeden Abend mit besorgtem Blick besuchte, war es nicht.
Er war ein guter Mann. Wäre sie klüger gewesen, hätte sie ihn vielleicht dazu gebracht, sie zu heiraten. Aber er kam nun mal aus einer anderen Schicht, und es wäre keine passende Verbindung gewesen. Außerdem hatte sie mit Joe ihre Chance auf das Glück gehabt.
Ach, lieber Joe. Manchmal meinte sie ihn am Fußende des Bettes stehen zu sehen, in Hemdsärmeln und nach Sägemehl riechend, als käme er gerade aus der Spinnerei.
Sie war es leid, gegen die Schmerzen und Übelkeit und das schreckliche Kopfweh anzukämpfen, die sich anfühlten, als würde ihr Kopf in einen Schraubstock gespannt. Es gab keinen Grund mehr hierzubleiben. Ella wäre ohne sie besser dran. Sie würde ihr Leben gut meistern. Mit ihrer groben, ungebildeten Art würde sie ihr nur im Weg stehen, dachte May seufzend. Genau das war der springende Punkt. Das Mädchen war nicht ihre Ellen, und obwohl eine enge Verbindung zwischen ihnen bestand, war sie nicht sicher, ob diese für
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