Schiff der tausend Träume
verzweifelten Schrei aus. »Raus mit dir … Geh mir aus den Augen!«
»Das werde ich, aber ich nehme Grandma mit. Du wirst ihr nie wieder ein Haar krümmen.« Er wandte sich an seine Großmutter. »Pack eine Tasche, wir gehen fort. Du kannst heute Nacht bei deiner Freundin Effie Miller bleiben.«
Doch Harriet schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe nirgends hin. Dies ist mein Zuhause. Ich will nicht, dass die Leute sich das Maul zerreißen.«
»Ich gehe nicht ohne dich«, rief Roddy, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. »Ich habe Mom versprochen, mich um dich zu kümmern …«
Harriet blieb, wo sie war, und sah entschlossen auf Grover hinunter. »Er ist mein Sohn, egal, was kommt. Ich hätte nie gedacht, dass ich euch einmal so sehe, zwei Platzhirsche, die sich bis aufs Blut bekämpfen, aber ich denke, es musste so kommen. Du gehst jetzt besser, Roderick. In diesem Haus wird es keine Kämpfe mehr geben.« Sie zog ihren immer noch halb benommenen Sohn zum Sitzen hoch.
»Das war seit langem fällig, Grover Parkes. Ich bin froh, dass Roderick nicht so wird wie du. Du machst so viel kaputt. Alles, was gut war in deinem Leben, hast du verloren, und das Schlimme ist, dass du es noch nicht einmal erkennst, aber das wird schon noch passieren. Wenn du dich nicht besinnst, wirst du eines Tages als einsamer alter Mann enden. Eingerissene Brücken sind nur schwer wieder aufzubauen.«
Grover wischte sich über das Jackett, ohne zuzuhören, und blickte zu seinem Sohn hoch. »Schaff diesen undankbaren Jungen raus, bevor ich ihn wieder zur Vernunft prügle.«
»Lernst du denn nie dazu?«, rief Harriet besorgt. »Mit deinen Prügeleien ist es jetzt vorbei. Roderick wird durch diese Tür hinausgehen und nie mehr zurückkommen, wenn du dich nicht entschuldigst.«
»Wofür denn? Dafür, dass ich weiß, was das Beste für meinen Sohn ist?«
»Er gehört dir nicht. Kinder sind uns nur als eine kostbare Leihgabe anvertraut, nicht mehr. Du hast deine Chance gehabt.« Ihre Stimme geriet ins Schwanken. »Es ist mir sehr unangenehm zu denken, dass ich dafür verantwortlich bin, wie du geworden bist. Aber ich glaube, dein Vater und ich haben dich zu viel herumkommandieren lassen. Sieh dich nur an – wer will dich schon freiwillig als Sohn haben? Ich nehme alles zurück, was ich früher über deine Frau gesagt habe. Sie wusste genau, was sie tat, als sie hier von Bord ging. Ich schätze, die
Titanic
hat ihr das eine oder andere über das Leben beigebracht. Sie kam von einer Katastrophe in die nächste. Grover, bitte entschuldige dich, bevor es zu spät ist.«
Totenstille herrschte, als Roddy die Tür hinter seinem Leben in Oak Court für immer schloss. Der Mond stand hoch am Himmel, und die Sterne beleuchteten seinen einsamen Weg die Auffahrt hinunter. Er hielt seine Reisetasche fest umklammert. Wohin sollte er nun gehen?
Das Einzige, was er wusste, war, dass er jetzt frei war, und es fühlte sich an, als wäre ihm ein riesiger Felsbrocken von den Schultern gefallen. Grandma hatte recht: Es gab kein Zurück mehr. Aber wenn er in dieser kalten Nacht nicht verhungern oder erfrieren wollte, musste er sich schnell etwas überlegen.
Mit festem Schritt marschierte er auf die beleuchtete Stadt zu. Jetzt wusste er, wo sein Ziel lag. Er hatte die Brücken hinter sich abgebrochen, ein neues Leben fing an. Und so beängstigend es im ersten Moment auch sein mochte, spürte er doch tief in seinem Inneren, dass alles sich zum Guten wenden würde.
90
Es war kurz vor Weihnachten, und Celeste schrieb Listen für den Metzger, den Bäcker und den Lebensmittelhändler. Sie war entschlossen, das Beste aus diesen düsteren Zeiten zu machen, und versuchte sich zu erinnern, wie May das alles immer hinbekommen hatte. Wie sehr sie sie doch in der Küche vermisste! Jetzt, wo so viele Männer arbeitslos waren, bedeuteten die Feiertage für viele Familien eine harte Zeit. Sie hatte in einer Verteilstelle für Lebensmittel und in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Im ganzen Land sprach man von einer großen Depression.
Sie kam sich so privilegiert vor, dass sie ein gemütliches Zuhause hatte mit Menschen, die sie liebten. Archie und Selwyn verfügten über regelmäßige und sichere Einkommen. Sie hatten Glück und sollten ihren Wohlstand mit anderen teilen. Celeste fand, ein schönes Fest nach diesem harten Jahr würde allen die Stimmung heben, und sie wollte es besonders für Ella schön gestalten. Der Baum kam aus dem örtlichen Wald, und bei einem
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