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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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sich, wie May einmal erzählt hatte, die kleine Ella habe zeitweise geglaubt, die Tochter eines von Captain Scotts Besatzungsmitgliedern gewesen zu sein. »Eine schöne Bescherung war das! Ich musste zur Schuldirektorin und alles erklären.«
    Aber du hast nicht die Wahrheit gesagt, dachte sie. Du hast allen erzählt, was sie hören wollten. Niemand hat je an deinen Worten gezweifelt oder an deinem Recht, dieses Kind großzuziehen. Ich sah, was ich sah, und glaubte, was alle anderen auch glauben. Ich bin immer für dich eingetreten, und nun bin ich es, die dein Geheimnis hütet. Wer ist Ella? Gibt es jemanden da draußen in der Welt, der uns mehr erzählen kann?

91
    Italien, 1927
    Als er in Italien an Land ging, küsste Angelo den Boden. Es schien ihm wie ein Traum, dass er den Weg in seine alte Heimat geschafft hatte. Von New York über Marseille war es eine lange Überfahrt gewesen, aber er fühlte sich schon bedeutend kräftiger von der frischen Luft an Deck, wo er, gut geschützt von einem neuen warmen Mantel und Hut, den Gesprächen der anderen Passagiere gelauscht hatte. Kathleen hatte vor seiner Abreise darauf bestanden, dass er die Sachen noch kaufte.
    Er kehrte nicht als kranker, gebrochener Mann zurück, sondern kam mit einer Kiste voller Geschenke, Fotografien und Neuigkeiten.
    Die Fahrt mit dem Schiff war noch der einfachste Teil der Reise gewesen, dann kam die Zugfahrt und danach die Fahrt mit Pferd und Wagen über die Maultierpfade bis zu ihrem alten Hof. Alles im goldenen Licht der Toskana kam ihm langsamer und kleiner vor als in seiner Erinnerung. Er war ein Stadtmensch und kein Bauernjunge mehr. Er konnte kaum noch den Dialekt verstehen, mit dem er aufgewachsen war, aber er war überglücklich, zurück in den pinienduftenden Bergen zu sein.
    Seine Mutter fiel ihm in die Arme, eine kleine verhutzelte Version der starken Frau, die ihm vor fast zwanzig Jahren zum Abschied nachgewunken hatte. Ihr einst so zartes Gesicht war nun gezeichnet. »Angelo, mein lieber Junge. Lass dich ansehen … so blass und dünn! Ich danke Gott, dass ich deinen Besuch noch erleben darf. Komm rein, Junge, komm rein.«
    Er fühlte sich wie ein Ehrengast, als er das oberste Zimmer mit der besten Matratze zugewiesen bekam, mit einem
vaso da notte
unter dem Bett für die Nacht. Die Nachbarn beäugten ihn voller Ehrfurcht, als wäre er ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie befühlten seinen Anzug und seinen Mantel und grinsten ihn zahnlos an.
    Auf den Esstisch kamen die
zuppa
, die Nudeln, der gute Käse, der Landwein, das Olivenöl und das wunderbare
castagnaccio
, süßes Kastanienbrot, alles mit dem frischen, aromatischen Geschmack von Sonne und Erde und nicht aus Dosen, die monatelang über das Meer geschifft worden waren.
    Er war gerührt, als er all seine Briefe und Postkarten an die Wand in der Ecke über der Kommode geheftet fand – sorgsam gehütete Dokumente, die bestimmt schon viele Male gelesen worden waren. Der Gedanke, er hätte öfter schreiben sollen, versetzte ihm einen Stich.
    Es gab so viel zu erzählen, zu erklären. Sie hielten ihn für einen wohlhabenden Stadtbewohner, nicht für einen Mann, der krank und arbeitslos und nur hergekommen war, weil ihm die Reisekosten aus einem Wohltätigkeitsfonds bezahlt wurden. Das war nicht das, was sie hören wollten. Sie wollten hören, dass es das Opfer wert gewesen war, ihre jungen Männer so weit fortziehen zu lassen. Er wollte sie nicht enttäuschen.
    Er hatte vergessen, wie arm sie waren und dass der Hof nicht so viele Söhne ernähren konnte. Umgeben vom unangenehmen Geruch des Kohleherds beobachtete er seinen kleinen Bruder Gianni, den er zuletzt in kurzen Hosen gesehen hatte und der nun größer war als er und ihn besorgt ansah, weil er fürchtete, Angelo könnte für immer nach Hause zurückgekehrt sein und seine Rechte als Ältester einfordern.
    »Komm, iss.« Sein Vater schob ihn vor allen anderen an den Tisch.
    »Nur, wenn alle mitessen«, entgegnete Angelo, der wusste, dass sie ihm den größten Teil überlassen wollten. »Der Arzt hat gesagt, ich darf nicht so viel essen, das schadet meiner Gesundheit.« Lächelnd rieb er sich den Bauch. »Also verzeiht mir, wenn ich mich etwas zurückhalte. Ihr habt mir viel zu viel aufgetischt.«
    Er konnte die Erleichterung auf den Gesichtern einiger Kinder sehen, bevor sie sich über das Festmahl hermachten. Wie konnte er ihnen die Bissen aus dem Mund nehmen? Angelo lehnte sich zurück und wünschte, seine eigene

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