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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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konnte. »Wir müssen alle ruhig bleiben.«
    Während sie sich um die junge Frau kümmerte, war im dunklen Wasser wieder eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Arm erhob sich aus den Fluten über das Dollbord des Bootes und ließ eine durchnässte Decke in den Schoß eines zitternden Jungen fallen. »Nehmt das Kind!«, rief eine raue Stimme. Celeste meinte, im Licht der Laterne einen weißen Bart zu erkennen.
    »Der Kapitän … Sir! Kapitän Smith. Wir können Sie an Bord nehmen«, schrie ein Matrose und streckte dem Mann im Wasser eine Hand entgegen.
    Der Arm verweilte eine Sekunde lang und zog sich dann zurück. »Viel Glück, Männer, tut eure Pflicht.«
    Stille trat ein.
    »Gebt das Kind seiner Mutter«, rief der Matrose, und plötzlich wurde das Bündel durch das Boot gereicht und der jungen, in trockene Decken gehüllten Mutter in die Arme gelegt. Sie drückte das Kind erleichtert an sich. Aus ihrer Benommenheit gerissen, tastete sie im Dunkeln nach dem Gesicht des Kindes, berührte seine eiskalte Wange und lauschte auf jeden Atemzug. Als sie die Kleine jammern hörte, weinte sie vor Erleichterung.
    Gott in seiner Güte hatte sie wieder zusammengebracht!, dachte Celeste. Wie wunderbar, so etwas mitten in den Schrecknissen der Nacht zu sehen. Wenn das nun Roddy gewesen wäre? Gott sei Dank hatte sie ihn nicht mit auf Reisen genommen. Ausnahmsweise hatte Grover einmal recht gehabt, seine Zustimmung zu verweigern. Wie hätte sie jemals weiterleben können, wenn er verlorengegangen wäre?
    Celeste bemühte sich hinauszuspähen, im Dunkeln etwas zu erkennen, beugte sich über den Bootsrand, wohl wissend, dass zahllose Kleinkinder und ihre Familien im eiskalten Wasser trieben. Wie viele würden die Nacht noch überleben? Nach diesen schrecklichen Qualen, nach allem, was sie gerade gesehen hatte, war nur eins sicher – das Leben würde für sie nie wieder so sein wie bisher.

13
    May drückte verzweifelt ihr Kind an sich und konnte in ihrer stumpfen Erschöpfung kaum glauben, dass ein solches Wunder geschehen war. Nun stieß Erleichterung sie wieder ins Leben zurück, stechender Schmerz löste die Taubheit ab. In der Dunkelheit spürte sie, dass das Kind warm war, dass es lebte und im Schlaf leise atmete. Wenn sie doch nur die Schichten entfernen und ihre daunenweiche Wange küssen könnte, doch die kalte Atlantikluft war zu rau für sie, weshalb sie die Decken an Ort und Stelle lassen musste.
    Das Kind roch nach Meer, Öl und Salz. May schaute zu den Sternen auf, die über den mitternachtsblauen Himmel schossen, und dankte Gott, dass ihr kleiner Liebling gerettet war. Schließlich und endlich gab es doch noch Gnade.
    »Wie kann in einer so schönen Nacht so etwas Furchtbares passieren?«, flüsterte die junge Frau an ihrer Seite, deren kastanienbraunes Haar unter dem schwarzen Hut hervorquoll. Gemeinsam beobachteten sie, wie sich das Schiff in den letzten Todesqualen aufbäumte, seine Silhouette zeichnete sich vor dem Firmament wie ein schwarzer Finger ab, der den Himmel eines großen Verrats anklagte. Dann ertönten noch mehr entsetzliche Schreie, als Passagiere sich von Bord stürzten, schwammen, um sich schlugen, ertranken, nach ihren Müttern riefen, Gott und alle Heiligen um Gnade anflehten. May wusste, dass sie diese Stimmen ein Leben lang hören würde.
    »Fahrt wieder zurück, bitte, fahrt zurück!«, riefen die beiden Frauen. »Mein Mann ist im Wasser …«, beharrte May.
    »Das halbe Schiff ist da«, brüllte einer aus ihrer Mannschaft. »Wir haben unsere Pflicht und Schuldigkeit getan. Es ist zu gefährlich. Jetzt besteht keine Hoffnung mehr.«
    May wandte sich ab. Sie konnte es nicht ertragen, länger hinzusehen, schmiegte die Kleine an ihre Brust und versuchte, die Schreie zu verdrängen.
    »Um Himmels willen, so helft ihnen doch!«, schrie die Frau neben ihr. »Habt ihr denn kein Herz?«
    »Halten Sie den Mund! Sie haben doch Ihr Kind. Wir können niemanden mehr aufnehmen, sonst kentern wir.«
    »Heben Sie sich Ihre Kräfte auf, gnädige Frau, das wird eine lange Nacht«, befahl eine heisere Stimme.
    Die junge Frau in Schwarz ließ den Kopf hängen und schauderte, während sie beobachteten, wie der Gigant auseinanderbrach und in die Tiefe glitt, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. May schaukelte ihr Kind vor und zurück, dankbar für die Wärme und den Trost, die es spendete.
    Wenn Ellen in Sicherheit war, dann gab es auch für Joe Hoffnung, überlegte May. Bei diesem Gedanken wurde ihr leichter

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