Schiff der tausend Träume
würden eine etwas größere Skulptur brauchen. Ich möchte sie im Andenken an meine Mutter stiften.«
»Danke«, krächzte Ella. »Es freut mich, dass sie Ihnen gefällt.«
Dann fiel ihr auf, dass auch an der Hand-Skulptur ein Schildchen klebte. Was passierte hier? Hatte sie am Ende doch Talent? Waren ihre Träume nicht umsonst gewesen? Ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen, als sie sich ein weiteres Glas Wein holte. Zwei Verkäufe und ein Auftrag an einem Abend, unglaublich! Vielleicht bedeutete es ja, dass ihre Karriere endlich begann.
102
1939
Wie war es nur dazu gekommen, überlegte Celeste, während sie sich die neuesten Bestimmungen für Luftangriffe einzuprägen versuchte. Viele von Ellas Studenten verabschiedeten sich zum Militär, und nun sprach man schon von Rationierungen und Benzingutscheinen und Engpässen in der Versorgung, falls es Krieg geben sollte. All das war äußerst beunruhigend. Würde die Kunsthochschule geschlossen werden? Würden Ellas private Aufträge versiegen? Wie sollte sie dann ihren Lebensunterhalt bestreiten?
Der Quartierwart hatte Red House bereits begutachtet, um zu sehen, ob er Evakuierte oder Offiziere der Luftwaffe bei ihnen unterbringen könnte. Die Vorstellung, ihr Zuhause mit Fremden teilen zu müssen, war ebenfalls sehr beklemmend. Krieg. Niemand sprach von etwas anderem. Lichfield mit seinen Kasernen war immer schon ein Militärstützpunkt gewesen, und nun wurde nicht weit von ihnen in Fradley ein neuer Landeplatz gebaut. Der Ort lag genau zwischen den großen Autobahnen A 38 und A 5 , und andauernd fuhren Lastwagenkonvois mit Lagerausrüstungen durch die Stadt. Wie konnten sie nur wieder an der Schwelle zu einem Krieg stehen?
Archie kannte Lehrer und Schüler, die in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen und gefallen oder später ihren Wunden erlegen waren. All die Talente, die im Mahlstrom dieser schrecklichen Ereignisse zerstört wurden! Wie viele junge Männer müssten ihr Leben noch geben, bevor dieser Wahnsinn endete?
Auf einmal kramten ehemalige Soldaten wieder ihre Uniformen heraus. Selwyn schrieb sich beim Landsturm ein und Archie bei der Freiwilligen Reserve der Königlichen Marine, um auf Abruf für reguläre Soldaten einzuspringen. Ihre friedliche Welt würde bald auf den Kopf gestellt werden. Auch von den Frauen würde man einen Beitrag erwarten. Ella würde sich im Krankenhaus einschreiben müssen oder einen anderen Weg finden, um zu dienen, irgendetwas, bei dem sie ihre Karriere weiter verfolgen könnte. Es wäre zu schade, wenn all ihre gute Arbeit im Nichts verliefe.
Sie entfernten die alten bunten Glasfenster aus der Kathedrale. Kunstwerke verschwanden aus Museen und Galerien, Parks und Gärten, um an sicheren Orten verwahrt zu werden. Es fühlte sich an, als würde das ganze Land auf Eis gelegt, und niemand wusste, für wie lange.
Celeste hörte das Dröhnen der Flugzeuge, die über der Stadt kreisten, und schauderte bei dem Gedanken, dass feindliche Flieger diesen schönen Ort zerstören könnten. Das konnte doch nicht alles schon wieder passieren, nicht so kurz nach den Schrecken des letzten Krieges!
Sie wohnten jetzt in einem Cottage der Schule nahe Stafford, wo Archie alte Sprachen unterrichtete. Es tat gut, allein zu leben, frei von Verantwortung, und dennoch war Ella in Celestes Leben sehr präsent. Nachdem Celeste ihr das Geheimnis ihrer wahren Herkunft anvertraut hatte, hatten sie und Archie das Mädchen sehr unterstützt.
Zunächst versuchte sie mit verbissener Energie Informationen über die Passagiere der
Titanic
zu suchen, als wäre es ihre Pflicht, Ellas Eltern zu finden. Ella dachte jedoch ganz anders und weigerte sich, irgendeine der Spuren weiterzuverfolgen. Archie hatte alles Auffindbare über die Katastrophe gelesen, vor allem den Bericht von Lawrence Beesley, und sie hatten einen fürchterlichen
Titanic
-Film im Palladium Filmtheater gesehen, den Celeste vorzeitig verließ, als der Schiffsuntergang gezeigt wurde. Es musste doch noch andere Dokumente geben! Beinahe hätte sie beim Wohltätigkeitsfonds angefragt, aber das hätte bedeutet, Mays Betrug zu verraten und sie und Ella als Schwindler zu entlarven. Das konnte sie nicht riskieren.
Selwyn riet ihr, die Sache ruhen zu lassen. »Es liegt allein an Ella, sich darum zu kümmern, wenn sie bereit dafür ist.« Der einzige Hinweis auf ihre wahre Identität war der kleine Koffer mit den Babysachen, einem bestickten Nachthemd mit Spitzenborte und dem einen Schuh mit der
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