Schiff der tausend Träume
fühlte, wie ihr die Knie weich wurden, da sie das Schlimmste befürchtete.
Selwyn grinste. »Nein, nichts dergleichen. Wir haben Besuch.«
»Aber ich habe nichts im Haus außer Reste«, hob sie an. Sie war so müde, dass sie keine Lust hatte, jemanden zu begrüßen, nicht nach dem, was sie gerade gesehen hatten.
Doch dort im Flur stand ein hochgewachsener Offizier in amerikanischer Uniform, die Mütze schräg über die Augen gezogen, so dass er keck und verwegen aussah.
»Hallo, Mom.«
»Roddy, oh, Roddy!« Sie fiel ihm ihn die Arme und hatte ihre Müdigkeit auf der Stelle vergessen. »Mein Sohn ist endlich wieder bei mir. Oh, danke, Gott, danke, danke!«
»Bei unserem letzten Treffen hast du noch kurze Hosen getragen«, meinte Ella lachend. »Und sieh dich jetzt an! Ein waschechter Amerikaner! Ich kann nicht fassen, dass es schon zwanzig Jahre her ist!«
»Und du warst eine Nervensäge mit Rattenschwänzen«, gab er zurück und musterte sie von oben bis unten. »Wer ist denn diese kleine Schönheit?«
»Das ist Clare. Sag Onkel Roddy hallo.« Aber Clare klammerte sich an ihr fest und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. »Sie ist nur schüchtern, sie wird sich schon noch an dich gewöhnen. Ich kann nicht glauben, dass du hier bist! Wie hast du das denn geschafft?«
»Mit freundlicher Genehmigung von Onkel Sam, erste Klasse über den Atlantik, im Zickzackkurs, um den U-Booten auszuweichen. Was für eine Fahrt! Die Hälfte der Männer hing ständig über der Reling. Mit einem Luxusliner wie der
Queen Mary
oder
Queen Elizabeth
konnten wir bei weitem nicht mithalten, aber immerhin sind wir in einem Stück in Liverpool angekommen. Mein Gott, was für ein Anblick – schwer zerbombt, aber immer noch da, wie das meiste von England, soweit ich es sehen konnte. Ich habe hier und da ein paar Fäden gezogen und es geschafft, dass ich meine Familie besuchen darf. Ich musste einfach meine Mutter sehen!« Celeste strahlte ihn an.
»Auf der Straße hätte ich dich sicher nicht erkannt! Du siehst so amerikanisch aus«, sagte Ella. »Woran natürlich nichts Schlimmes ist«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »aber manche der hier stationierten Soldaten sind doch recht unverschämt. Süßes für die Kinder und Nylonstrümpfe für die jungen Mädchen … gegen gewisse Gefälligkeiten.« Sie zwinkerte ihm zu. »Falls du verstehst, was ich meine.«
»Keine Sorge, ich habe zwar Süßes für die Kleine mitgebracht, aber nichts für dich.« Er holte eine Tafel Schokolade aus der Tasche, und Clare musste nicht weiter überredet werden, sie anzunehmen. Alle Schüchternheit war auf wundersame Weise vergessen, und sie schnappte sie ihm aus der Hand.
Später gingen sie zusammen die Market Street hinunter, Clare in ihrer Klappkarre vor ihnen.
»Ich habe Celeste noch nie so glücklich gesehen wie vorhin, als sie dich im Flur entdeckte«, sagte Ella. »Du bist das allerschönste Geschenk für sie. Sie hat sich viele Sorgen um dich gemacht.«
»Ich weiß, aber jetzt bin ich ja hier. Wo ich als Nächstes stationiert werde, weiß ich allerdings noch nicht.« Roddy sah sich erstaunt um. »Hier scheint sich nicht viel geändert zu haben, aber alles ist so viel kleiner als in meiner Erinnerung.«
»Wie sollte sich etwas geändert haben? Es ist Krieg. Wir hangeln uns von Provisorium zu Provisorium. Seltsam, wie das Leben trotzdem weitergeht.«
»Und dein Ehemann?« Roddy lächelte. »Ihr habt es aber sehr eilig gehabt, hm?« Er deutete auf die Kinderkarre.
»Warum nicht? Kinder sind unsere Zukunft, unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Laufen von dir denn auch ein paar auf Akrons Straßen herum?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Er zwinkerte. »Du hast dich aber auch verändert.«
»Das hoffe ich. Ich bin jetzt Mutter.« Sie spazierten in Richtung der Kathedrale. »Erinnerst du dich? Hier sind wir immer hingegangen, um dich singen zu hören.«
»Natürlich. Es kommt mir vor wie in einem anderen Leben. Nach dem, was ich in unseren Zeitungen las, dachte ich, das ganze Land wäre dem Erdboden gleichgemacht worden. Hier sieht es unverändert aus.«
»Lass dich nicht täuschen, wir werden alle noch etwas abbekommen, ehe es vorbei ist. Zumindest schlagen wir jetzt zurück und zahlen es ihnen auf der anderen Seite des Kanals heim. Aber lass uns nicht vom Krieg reden. Wie lange müssen wir dich und deine schlechten Witze hier ertragen?«
Sie blieben stehen, um die vertraute Westfassade der Kathedrale zu betrachten.
»Morgen muss ich
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