Schiff der tausend Träume
Geräuschen, doch er hörte nur das nächtliche Summen und Knacken des Waldes. Es war warm, zu warm. Er suchte nach verborgenen Quellen, um seinen Durst zu stillen, und ruhte sich in einem Versteck hinter Blättern und Zweigen ein wenig aus. So verbrachte er die erste Nacht auf der Flucht unter einem klaren Sternenhimmel.
In den folgenden Wochen wanderte er weiter nach Süden und war jedem Schäfer, Bergführer und Sympathisanten mit den Partisanen dankbar, der ihn von einem Tal ins nächste begleitete. Niemand nannte seinen Namen, denn was Roddy nicht wusste, konnte er nicht verraten. Er hatte nichts weiter als einen Kompass, der ihn Richtung Süden und Westen führte. Seine Haut wurde dunkel und zäh wie Leder mit roten Flecken, wo die Mücken ihn trotz des Zitronenöls gestochen hatten, und seine Stiefel hielten dicht. Trotzdem bekam er immer wieder Blasen an den Fersen. Er roch nach Viehställen und Misthaufen, schlimmer als jeder Obdachlose in den Staaten. Einmal entdeckte er einen See und sprang nackt hinein, dann wusch er sein Hemd aus und ließ es über einem Busch trocknen. Sein Bart wuchs feuerrot nach und würde ihn auf der Stelle als Ausländer verraten. Er sah aus wie ein deutscher Deserteur, doch er hatte Glück und kam nicht in Gefahr. Er aß, was er auf Bauernhöfen angeboten bekam, und fürchtete, dass manch einer seinetwegen hungern musste. Er wurde immer schmaler und sehniger und hatte ständig Hunger.
Den Winter würde er im Freien nicht überleben, denn selbst ihm war klar, dass es in dieser Höhe schneien würde. Da zeigte ein Schäfer ihm eine Höhle, in der er unterkommen und Feuer machen konnte, wenn es regnete. Eines Morgens nach einer schrecklich hungrigen Nacht war Roddy so niedergeschlagen, dass er überlegte, ob er sich nicht der nächsten Miliz stellen sollte. Er hatte das Gefühl, nicht mehr weiterzukommen. Er war jetzt mehr als sechzig Kilometer über unwegsames Land marschiert. Schwach und entmutigt sehnte er sich zurück nach Akron, auf seine Veranda, wo er jetzt ein Bier trinken könnte. Warum hatte er sich diesen Qualen nur ausgesetzt?
Die letzten Monate hatten ihn verändert. All der Luxus seines Lebens in Akron erschien ihm jetzt bedeutungslos. Hier hatte er etwas Wichtiges geleistet. Er kämpfte für die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, und für seine eigenen Männer, die bereits den höchsten Preis bezahlt hatten, damit gewöhnliche Zivilisten sich aussuchen könnten, wie und wo sie ihr Leben lebten, frei von Tyrannei, Angst und Krieg. Er schuldete diesen Bauern so viel, und falls er es tatsächlich nach Hause schaffte, würde er es ihnen eines Tages zurückzahlen. Er musste überleben. Er hatte es Frank versprochen, aber wie er das anstellen sollte, wusste er nicht.
Es war Zeit weiterzuziehen, mit oder ohne leeren Magen. Plötzlich hörte er Zweige knacken. Jemand näherte sich. Roddy versteckte sich im hintersten Winkel der Höhle und fürchtete das Schlimmste. Dann hörte er Stimmen:
»Americano! Americano, buon giorno!«
Zwei kleine Mädchen mit Kopftüchern spähten in die Dunkelheit, eine von ihnen trug einen Korb auf dem Rücken.
»Ella?«, krächzte er benommen, da er dachte, eine von ihnen wäre seine Gefährtin im Red House. War das ein Traum?
»No, signor, Agnese«
, sagte die eine und lächelte. »Komm, essen.«
Roddy ging langsam dem Licht entgegen und blinzelte, als wären ihm zwei Engel erschienen. Der Korb war gefüllt mit kaltem Fleisch, Käse, Brot, einer Flasche
vino lavorato
und Weintrauben. Die Mädchen mussten seit Tagesanbruch unterwegs gewesen sein, um ihm dieses Festmahl zu bringen.
Sie saßen schweigend dabei und beobachteten, wie er all die leckeren Sachen verspeiste. Jedes Angebot, mitzuessen, lehnten sie ab. Dann gaben sie ihm Zeichen und deuteten ins Tal.
»Vieni a casa, mezzo notte, vieni?«
Und so machte Roddy sich später auf und wanderte im Dunkeln ins Tal hinunter, wo er einen Kuhstall fand, in dem die Tiere für das morgendliche Melken aufgereiht standen. Er verbrachte die Nacht in der mit Stroh gefüllten Futterkrippe und schlich sich im ersten Morgengrauen wieder hinaus und versteckte sich erneut im Wald oder in der Höhle, bis es sicher war, zurückzukehren.
Den Rest der Familie bekam er nie zu Gesicht, nur die zwei kleinen Mädchen, die versuchten, ihm ihren Dialekt beizubringen. Eines Morgens hörte er das gefürchtete Wort
tedeschi
, Deutsche, und fürchtete das Schlimmste. An dem Tag versteckte er sich weit oben und
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