Schiff der tausend Träume
festgehalten, dass sein Tod am 10 . Dezember 1943 eintrat.
Jetzt war sie also offiziell Witwe, so wie ihre Mutter all die Jahre zuvor. Wie seltsam, dass die Geschichte sich so wiederholte. Das Leben kam ihr trostlos und unsicher vor. Im Krieg hatte es wenigstens etwas zu kämpfen gegeben. Sie hatten sich gemeinsam dafür eingesetzt, dass das Leben so normal wie möglich weiterlief, um der Kinder willen. Und was geschah nun?
Ohne ganz zu merken, was sie tat, war sie in die Kathedrale hineingegangen und sah sich dort mit müden Augen um. Hier wurde sie nie enttäuscht, sondern immer wieder aufs Neue beeindruckt … vom Deckengewölbe, den Figuren, den Messingplaketten an der Wand. Anders als andere große Kathedralen war Lichfield ihr vertraut, ein wichtiger Teil ihres früheren Lebens. Sie setzte sich auf einen Stuhl und wollte um alles weinen, was sie verloren hatte, aber hier war nicht der richtige Ort, nicht vor den Menschen, die aufgeregt plappernd an ihr vorbeigingen. Sie erhob sich wieder und ging langsam weiter zur Marienkapelle am hinteren Ende des Kirchenschiffs. Ihr Blick fiel auf die Marmorstatue der
Schlafenden Kinder
, und sie war augenblicklich gerührt, sie wiederzusehen – diesmal nicht mit den Augen eines Kindes, das sie vor all den Jahren noch gewesen war, sondern mit denen einer Frau, die sich verwundert fragte, wer sie geworden und was von der alten Ella noch übrig war.
Mit professionellem Blick studierte sie die Konturen, die Weichheit der Rundungen, die gekonnte Komposition und Ausarbeitung. Und dennoch hatte der Künstler Francis Chantrey bei aller Perfektion ein Zeichen hinterlassen: ein kleiner Marmorblock unter einem Fuß war unbehauen, solide, eine Erinnerung daran, dass dies nur ein Stück Kunst war, das durch eben jenen absichtlichen Fehler einen Makel zeigte. Wie prächtig es war! Kein Wunder, dass es bei seiner ersten Ausstellung 1816 großen Wirbel verursacht hatte.
Der Tod kam nicht immer friedlich, und Ella wusste, dass eines dieser Kinder aufgrund eines Feuers gestorben war, verbrannt, erstickt, wie nun auch so viele Opfer der Luftangriffe. Die Gewalt des Todes musste wohl durch Bilder und Denkmäler abgemildert werden, überlegte sie, um den Menschen zu helfen, sich zu erinnern und zu versuchen, auch einer Tragödie Sinn zu geben.
Die Vorstellung, wie Anthony seinem Tod entgegengesehen hatte, in seiner Maschine, die er möglicherweise noch über Wasser hatte halten wollen, war die reinste Qual. Es gab keine Leiche, keinen Abschied, kein Grab. So musste es auch May empfunden haben. Kein Wunder, dass sie immer zu Captain Smiths Statue im Park gegangen war! Ellas Eltern hatten ihr Grab auf dem Grunde des Ozeans, und in all den Jahren hatte sie so wenig an sie gedacht. Doch der Anblick dieser Skulptur rührte etwas in ihr an, und sie fragte sich zum ersten Mal seit langer Zeit, wer ihre Eltern wohl gewesen und woher sie gekommen waren.
Denk nicht jetzt darüber nach, mahnte sie sich selbst. Es wird dich nur noch trauriger machen. Das Leben muss weitergehen. Und gerade weil es kein Grab für Anthony gab, sollte in besonderer Weise an ihn gedacht werden. Clare sollte etwas haben, durch das sie sich immer an ihren Vater erinnern könnte, etwas Greifbareres als seinen letzten Brief.
Diese Skulptur war als Trost für die Mutter dieser toten Kinder gefertigt worden, also musste Ella etwas erschaffen, das ihr selbst Trost spendete – etwas, das nur sie hervorbringen konnte, etwas Dauerhaftes, Schönes und Bedeutsames für Clare und sie.
Auf einmal spürte sie, wie freudige Erregung ihren gesamten Körper durchzog, so wie ein leichter Stromschlag. Eine Idee, ein Gefühl der Gewissheit kam in ihr auf. Und das, nachdem sie zunächst mit bleischweren Füßen die Kathedrale betreten hatte! Jetzt lief sie eilig hinaus in die Menge. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen und ihre Werkstatt aufzuräumen.
Der Schuppen war feucht und dreckig, voller Tonscherben von der Explosion, die ihre Skulpturen zerstört hatte. Tote Fliegen lagen auf den Regalbrettern, und es roch muffig. Doch dieser Junimorgen leuchtete hell und sonnig, und so wischte sie die Spinnweben von den schmutzigen Fenstern und machte sich ans Putzen.
Sie brauchte Licht, kräftiges Nordlicht, frische Luft und Platz, um ihre Ideen zu Papier zu bringen. Anhand von Skizzen wollte sie festhalten, was sie für ihren Ehemann empfand. Zuerst jedoch musste sie das Alte loswerden, um Platz für das Neue zu schaffen. Ella nahm das
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