Schiff der tausend Träume
hielt von Bäumen Ausschau. Vielleicht war er verraten worden.
Nach all der Zeit der selbstlosen Großzügigkeit so vieler Menschen wäre es entsetzlich, gefangen und wieder in ein Lager gebracht oder gar erschossen zu werden. Aber es blieb den ganzen Tag über ruhig, und in der Nacht schlich er wieder zum Stall zu seinem kratzenden, aber warmen Bett. Ein Mann erwartete ihn dort, der ihn aufgeregt umarmte und rief:
»Americano amici, Inghilterra, americano … tedeschi kaput. Vieni … amice.«
Auch Frauen waren dort, und Roddy sah, dass sie ihn anlächelten. Er wurde ins Bauernhaus geführt, wo Kerzen auf dem Tisch standen und es nach Braten duftete. Er konnte gerade so viel verstehen, um zu begreifen, dass es einen Durchbruch gegeben hatte. Der Feind hatte sich nach Norden zurückgezogen, und amerikanische Truppen befanden sich in der Nähe. Erleichterung und Freude strahlten aus ihren Gesichtern:
Liberazione!
»Du bist frei.« Das Mädchen, das ihn an Ella erinnerte, lächelte ihn an. »Du bist frei.«
Wenn es doch nur so einfach wäre! Zu wissen, dass die deutschen Truppen vertrieben waren, reichte nicht aus, denn es gab noch die lokale Miliz und Kollaborateure in jedem Ort, und Roddy wusste nicht, wem er vertrauen konnte. Dennoch hatte die Atmosphäre sich geändert. Viele Menschen ließen stolz die italienische Flagge wehen. Um nicht sofort in der Öffentlichkeit aufzufallen, marschierte er parallel zu den größeren Straßen durchs Gebüsch. Dann entdeckte er in einiger Entfernung einen Jeep.
Winkend lief Roddy aus seinem Versteck. »Halt! Halt!« Er lief direkt vor den Wagen für den Fall, dass man ihn nicht bemerkt hatte.
Zuerst wurde er sorgfältig durchsucht für den Fall, dass er ein Spion war, doch er sagte ihnen seinen Rang und Personenkennziffer und zeigte seine Erkennungsmarke, so dass er schließlich als amerikanischer Soldat identifiziert wurde. Man gab ihm ein Hemd und richtige Zigaretten. Es war eine britische Aufklärungstruppe, die ausspähte, ob die Straßen frei waren und keine Partisanen im Hinterhalt lauerten. Sie nahmen seine Personaldaten auf sowie die Adresse der italienischen Familie, die ihn zuletzt beherbergt hatte, und sagten ihm, er solle dorthin zurückkehren, bis er weitere Instruktionen erhalte.
Nachdem er sich so lange hatte verstecken müssen, war dies eine herbe Enttäuschung. Doch die englischen Zigaretten waren ein kostbarer Schatz, und er verteilte sie auf dem Bauernhof. Wenigstens konnte er sich so bei den Leuten bedanken, die ihn beherbergten. Es wurde Zeit, dass er sich rasierte und wusch und Briefe schrieb. Zwei Wochen später erhielt er einen Brief aus Rom, in dem er aufgefordert wurde, sich bei den Alliierten für eine Überprüfung seiner möglichen Rückführung zu melden. Er sollte glücklich sein, dass er sich nun fast schon auf dem Weg nach Hause befand, aber irgendwie fühlte es sich nicht richtig an. Der Krieg war noch nicht beendet, der Feind noch nicht geschlagen, und er hatte nicht vorgehabt, mit nur halb erledigter Aufgabe in die Staaten zurückzukehren. Er wollte Pater Frank schreiben, dass er sein Versprechen gehalten hatte und am Leben geblieben war – doch sein Krieg war noch nicht vorbei.
118
Die Menschenmenge, die sich vor der Kathedrale versammelt hatte, blickte zu den Flutlichtern, die auf die drei Türme gerichtet wurden. Die Zeit der Verdunkelung war endlich vorbei. Der Krieg war beendet, aber Ella fühlte sich taub und gleichgültig und folgte nur mechanisch den Feierlichkeiten des Straßenfests. Sie hatte in der Stadt die Parade der Musikkapellen gesehen, Fahnen und Wimpel überall, aber sie fühlte nichts. Aus einiger Entfernung beobachtete sie, wie Clare auf und ab hüpfte und auf die Lichter zeigte. Celeste und Archie hatten sie mitgenommen, um ein paar Freunde zu begrüßen, aber Ella hing allein ihren Gedanken nach.
Lichfield erstrahlte im Licht. Sie hatte gute und schlechte Zeiten in ihrer Heimatstadt überlebt, und so sehr sie die mit Kopfstein gepflasterten Straßen und die Kirchtürme auch liebte, fühlte sie sich dennoch leer und abgestumpft. Ein Brief des Luftfahrtministeriums hatte ihre Hoffnung auf Anthonys Rückkehr endgültig zunichtegemacht.
In Anbetracht der langen Zeitspanne ohne neue Nachrichten in Bezug auf Ihren Ehemann, Geschwaderführer A. G. C. Harcourt DFC , seit dem Datum der Vermisstenmeldung, müssen wir mit größtem Bedauern annehmen, dass er sein Leben verloren hat, und aus amtlichen Gründen wird
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