Schiff der tausend Träume
»Sie sind Engländerin. Davon gibt es viele an Bord, versuchen Sie, die in die Enge zu treiben, und lassen Sie eine ablehnende Antwort nicht gelten. Wenn sie nicht helfen wollen, ringen Sie ihnen wenigstens eine Spende ab oder eine Anschrift, unter der wir sie später mit unserem Aufruf belästigen können.«
Celeste seufzte über diese mutige, unkonventionelle Dame, die schnurstracks auf die Astors zuhielt. Sie platzte förmlich vor Zuversicht.
Könnte sie doch nur ein wenig so sein, sinnierte sie. Hätte sie doch nur nicht das Gefühl, als wäre in den letzten Jahren jede Unze ihres Selbstwertes durch Grovers beständige Krittelei von ihr abgeschliffen worden. Er würde einen Blick auf Mrs Brown werfen und sie als störende Wohltätigkeitsziege abtun, die mehr Geld als Verstand hatte. Da irrte er sich. Sie gehörte zu den Frauen, die zupackten, und Celeste beschloss, den Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten, komme was wolle, in der Hoffnung, dass dieses kecke, draufgängerische Selbstbewusstsein zumindest teilweise auf sie abfärben würde.
21
May döste vor sich hin, als Celeste zurückkam, und schrak auf. Seufzend betastete sie das schwarze Kostüm, das Celeste gefaltet über dem Arm trug. »Wie soll ich Ihnen je danken? Was für ein schöner Stoff.«
Celeste erwähnte nicht, wie wichtig es Grover war, dass sie sich ihrer Stellung gemäß kleidete. Sie musste stets wie die adäquate Gemahlin eines erfolgreichen Geschäftsmannes aussehen und durfte nur feinste Stoffe mit den besten Besätzen anziehen. Die äußere Erscheinung war alles für Grover, dachte Celeste finster. Und Äußerlichkeiten konnten trügerisch sein, wie die
Titanic
so schrecklich vorgeführt hatte.
»Wir wollen sehen, wie es Ihnen passt. Den Saum können wir immer noch kürzen.«
May hielt sich zurück. »Da drüben laufen Frauen in Röcken aus Decken herum. Das hier ist zu fein für mich.«
»Unsinn. Hier sind die Sachen für das Kind, alles gewaschen und gebügelt. Die Spitze am Nachthemd ist vorzüglich. Sie ist handgefertigt, das Häubchen auch … Sind Sie Spitzenklöpplerin?«
May schaute auf. »Ach, das«, sagte sie unbewegt. »Das war ein Geschenk. Ich war einmal in Lostock außerhalb von Bolton bei der Frau eines Baumwollspinnereibesitzers im Dienst. Als sie von dem Kind hörte, schenkte sie mir eine Menge Zeug. Das muss von ihr sein.« May war selbst erstaunt, wie schnell und souverän sie diese grauenhafte Lüge vortrug. Eine so ausgefallene Spitze hatte sie noch nie im Leben gesehen.
»Sie sehen aus wie Erbstücke. So etwas ist mir noch nie untergekommen.«
»Wahrscheinlich ist es wirklich ein bisschen arg prächtig für ein so kleines Kind.« May errötete. »Ich komme jetzt zurecht, schätze ich. Holen Sie sich doch etwas Tee. Sie waren so nett. Irgendwie werden wir es schon schaffen.«
So einfach wurde sie Celeste jedoch nicht los. »Wir haben das hier gemeinsam angefangen, also werden wir es auch zu Ende bringen. Ich habe alle Zeit der Welt. Sie brauchen Hilfe und Informationen. Ich kann Ihnen in New York einen Aufenthaltsort besorgen. Sie haben mit Ella genug am Hut.«
»Sind Sie immer so bestimmend?« May lächelte und entblößte eine Reihe schiefer Zähne.
»Nur, wenn ich im Recht bin«, erwiderte die Dame lächelnd. »Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Ich möchte, dass Sie Ihre Hände noch einmal untersuchen lassen.« Sie ergriff Mays Hände und untersuchte die geschwollenen Finger. »Ein warmes Bad könnte ihnen guttun. Ich kann auf Ella aufpassen. Sie ist so goldig, wie alt ist sie?«
»Im Mai wird sie ein Jahr alt«, antwortete May rasch und hätte es am liebsten nicht gesagt.
»Tatsächlich? Sie ist sehr klein. Roddy war in ihrem Alter doppelt so groß.«
»Sie ist ein Siebenmonatskind und war bei der Geburt winzig und ziemlich schwach, daher hängt sie anderen ein bisschen hinterher.« Wie brachte sie diese Lügen nur so flüssig über die Lippen?
»Ich hätte so gern ein kleines Mädchen. Eines Tages vielleicht …« Celeste wirkte wehmütig und zerstreut. »Roddy ist fast drei. Sie wachsen so schnell, nicht wahr? Vergessen Sie nicht, Ihrer Familie zu Hause zu telegraphieren, um ihnen mitzuteilen, dass Sie in Sicherheit sind.«
»Wir haben keine Familie, jetzt nicht, nie mehr. Wir waren nur zu dritt. Ella ist alles, was mir geblieben ist.«
Celeste sah sie erschrocken an. »Oh, das ist ja furchtbar – und so ungerecht. Es tut mir so leid. Aber Sie haben ja noch Ihren Verwandten in
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