Schiff der tausend Träume
Idaho.«
»Onkel George? Ich habe ihn nie kennengelernt. Er hat die Fahrkarte für uns bezahlt, aber Joe hatte alles in seinem Mantel.« Jetzt stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ich weiß nicht einmal genau, wohin wir fuhren. Ist das nicht furchtbar? Alles hat Joe gemacht. Ich wollte eigentlich nicht dorthin.« Die Tränen rannen ihr ungehindert über das Gesicht.
»Lassen Sie die Tränen nur fließen, May. Sie müssen weinen. Sie haben sich so tapfer zusammengerissen. Wenn dieser Onkel George Sie finanziell unterstützt hat, werden Beamte seine Anschrift haben. Ich werde dafür sorgen, dass Sie es in Erfahrung bringen.«
»Ich habe Ihre Freundlichkeit nicht verdient, Celeste. Ich mache mich selbst zum Narren«, schniefte May.
»Seien Sie nicht albern. Man wird einen besonderen Trauergottesdienst für alle abhalten, die auf dem Schiff umgekommen sind. Ich finde, wir sollten hingehen. Das wird helfen. Mein Vater ist Geistlicher, und er sagt, es hilft, wenn man Abschied nimmt. Wenn wir Seite an Seite stehen, können wir uns gegenseitig stützen.«
»Sollten Sie nicht da oben sein?« May warf einen Blick an die Stelle, an der sich viele Passagiere der ersten Klasse in Gruppen zusammengefunden hatten, miteinander sprachen und rauchten.
»May, das hier stehen wir gemeinsam durch.« Celeste streckte eine Hand aus. Das war zu viel für May, und sie musste wieder weinen.
»Joe kommt nie wieder, nicht wahr?«
»Hoffnung gibt es immer. Vielleicht hat ein anderes Schiff Überlebende aufgenommen.«
May seufzte und schluckte ihre Tränen. »Er ist tot. Ich fühle es hier«, flüsterte sie und berührte ihr Herz. »Ich hätte mit ihnen sterben sollen.«
»Sagen Sie so etwas nicht! Denken Sie an Ella. Sie braucht Sie jetzt mehr denn je.«
May betastete den Kopf des Kindes und flüsterte: »Sie haben recht. Jeder braucht eine Mutter.« Ich bin zwar nicht dein Fleisch und Blut, dachte sie bei sich und schaute der kleinen Fremden in die Augen, aber ich gebe mir die größte Mühe.
22
Lower Manhattan
Er würde zu spät zu seiner Schicht kommen, aber Angelo Bartolini blieb noch, um letzte Hand an seine Wohnung in der Baxter Street zu legen. Er hatte die Tage auf seinem Heiligenkalender gezählt. Er konnte es nicht erwarten, Maria wiederzusehen und seine neugeborene Tochter kennenzulernen, aber er wollte nicht, dass sie enttäuscht von den beiden Zimmern war, daher gab er ihnen einen schnellen Anstrich.
Onkel Salvi und Tante Anna hatten ihm geholfen, das kleine Zuhause mit einem Bett, einer Wiege, einem Tisch, zwei Stühlen und einem Kleiderschrank auszustatten. Es musste vor ihrer Ankunft am Mittwoch fertig sein. Als er zurücktrat, um sein Werk zu betrachten, lächelte er. Die Wohnung war prächtig wie ein Palast, neue Spitzengardinen warteten darauf, aufgehängt zu werden, und er hatte eine Schale mit frischem Obst von Salvis Stand an der Mulberry Street gefüllt. Alles musste für ihr Wiedersehen perfekt sein.
Er tastete nach der Postkarte in der Tasche seiner Latzhose. Darauf war das prächtigste Schiff der Welt abgebildet; seine Frau und sein Kind reisten stilvoll nach New York, um ihr gemeinsames Leben zu beginnen; ein gutes Omen für ihr zukünftiges Glück.
Wie lange hatten sie dieses Wiedersehen hinausgeschoben, zunächst wegen des Kindes, dann, weil er für seine Frau nur das Beste wollte. Sie würden ihre Wohnung nicht mit anderen teilen. Der Mulberry District war laut, staubig, voller Landsleute, die sich mühselig ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Straßen von New York mochten zwar mit Gold gepflastert sein, aber die Italiener mussten pflastern.
Das geschäftige Treiben auf den Straßen war anfangs erschreckend für ihn gewesen, so ganz anders als ihre Dörfer in der Toskana. Gebäude ragten hoch über ihm auf, und in der abgestandenen Luft konnte er kaum atmen. Die Hitze, die Gerüche, die dichtgedrängten Menschen, die am Boden lagen – das alles war unerträglich. Es war hart, aber Angelo hielt lange genug durch, um zu erkennen, was für Möglichkeiten sich in den Straßen von New York eröffneten. Er half Salvis Freund auf einer Baustelle, hoch oben auf einem Gerüst, wo er die Brise vom Hudson mitbekam. Er war von Natur aus schwindelfrei und fand bald geregelte Arbeit und Bezahlung.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, zu Geld zu kommen und schließlich nach Italien zurückzukehren, doch Maria hatte gebettelt, sie wolle Amerika mit eigenen Augen sehen. Sie fehlte ihm so sehr, dass er ihr nichts
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