Schiff der tausend Träume
darauf, das Rettungsschiff zu sichten, während Krankenwagen, Limousinen, Taxis und Leichenwagen auffuhren. Beim Anblick der schwarzen Wagen wurde Angelo kalt bis auf die Knochen.
Außer Krankenschwestern und Ärzten waren die schwarz gekleideten Nonnen der Sisters of Charity und die bekannten Priester der Old St. Patrick’s Cathedral gekommen und streckten unterstützend und tröstend ihre Hände aus.
»Angelo, sei jetzt tapfer. Alles wird gut.« Pater Bernardo erteilte ihm seinen Segen, als er ihn erblickte.
Eine Frau, die vor ihm stand, wehklagte bereits mit schriller Stimme, zerrte an ihren Kleidern und konnte ihren Kummer nicht beherrschen. Entnervt ging Angelo auf Abstand zu ihr. Bei ihrem Gehabe wurde ihm übel.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er diese Reise selbst unternommen, ein Fremder, der auf dem Meer hin und her geworfen wurde und sich fragte, wieso um alles in der Welt er sein geliebtes Land verließ. Jetzt stand er in dieser dunklen, nassen Nacht und betete, seine Frau und seine Tochter mögen gesund an Bord sein, betete, dieser Albtraum möge zu Ende sein, sobald er sie am Ende in den Armen hielt.
Auf dem Wasser schienen unzählige kleine Boote unterwegs zum Ambrose-Leuchtfeuer zu sein, um den ersten Blick auf das Rettungsschiff zu erhaschen. Das Meer war kabbelig, doch Dunst und Nebel lichteten sich immer mehr. Ein Aufschrei ertönte, die
Carpathia
sei am Horizont zu sehen, ein riesiger schwarzer Rumpf mit einem Schornstein zeichne sich in weiter Ferne ab. »Schiff ahoi!«, lief es durch die Menge, die angestrengt Ausschau hielt.
Stampfend wärmte Angelo seine Füße in den nassen Schuhen, schlang die Arme um sich und versuchte, nicht zu zittern. Er umklammerte das Kruzifix an seinem Hals wie einen Talisman.
O bitte, lieber Gott, bewahre sie
.
23
Umtost von heftigen Böen und prasselndem Regen, nach einer langen, von Nebel verzögerten Fahrt dampfte die
Carpathia
durch die Meerenge in den Hafen von New York. May und Celeste starrten hinaus auf die kabbeligen Wellen und beobachteten eine Reihe kleiner Boote, die zu ihrer Begrüßung tuteten. Reporter hielten Pappschilder mit Fragen hoch und boten Geld für die Geschichten der Überlebenden an. Fotografen, die begierig waren, die ersten Aufnahmen von den Überlebenden der
Titanic
zu schießen, ließen ihre Blitzlichter aufflackern. An Deck sprach niemand, alle schauten mit trübem Blick auf das Schauspiel, während sich das Schiff dem Kai näherte.
»Wir werden eine große Attraktion sein«, sagte Celeste schließlich, doch May hörte nicht zu, in Gedanken versunken. Das hätte der aufregendste Augenblick ihres Lebens sein sollen. Joe hätte sich weit über die Reling gebeugt und auf die Umrisse der Stadt gezeigt. Jetzt aber empfand sie nichts beim Anblick der hohen Gebäude und Brücken, die sich am Nachthimmel abzeichneten, nichts außer schmerzhafter Müdigkeit. May wollte weder Mitleid noch Neugier ausgesetzt sein. Sie wollte nur das erste Schiff zurück nach England nehmen, aber das wäre erst nach Tagen möglich. Sie hatte nur die geliehenen Sachen am Leib und ihr eigenes Kleiderbündel. Sie hatte kein Geld in der Tasche und konnte sich nicht einmal eine Mahlzeit leisten.
Überlebende wurden zu Sammelstellen gerufen. Mehr als siebenhundert drängten sich an Bord. Jetzt sollten sie entsprechend ihrer Fahrkarten eingeteilt werden. Celeste würde als Erste von Bord gehen und zu ihrem weit entfernten Zuhause zurückkehren. May würde allein zurechtkommen müssen.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, hakte Celeste sich bei May unter. »Keine Bange, ich lasse Sie nicht im Stich, ich werde hierbleiben, bis Sie wissen, wie es weitergeht. Wir müssen eine Unterkunft für Sie suchen. Wenn Akron nicht so weit weg wäre, würde ich Sie mit nach Hause nehmen.«
May sah diese unwahrscheinliche Freundin an – so groß, so verblüffend mit ihren lockigen, kastanienbraunen Haaren, der kräftigen Kinnpartie und den blitzenden blauen Augen – und hätte am liebsten vor Erleichterung geweint. »Sie waren so freundlich, aber Sie müssen doch jetzt weiterreisen zu Ihrem Mann und dem kleinen Jungen«, sagte sie. May kam sich wie eine Betrügerin vor. Was würde Celeste von ihr halten, wenn sie die Wahrheit über Ella wüsste? Sie wäre entsetzt.
»Ein paar Tage länger wird niemandem weh tun. Ich werde Sie und Ella nicht in eine verlauste Herberge zwängen lassen. Ich werde eine anständige Unterkunft für uns suchen. Jetzt muss es doch welche
Weitere Kostenlose Bücher