Schiff der tausend Träume
Sie hatte ihre Geschichte Wort für Wort parat: Sie würde sagen, immerhin habe der Kapitän ihr das Kind anvertraut, und sein ausdrücklicher Befehl laute, sie solle es nur an ein Elternteil oder Verwandte abgeben. Doch noch immer trat niemand vor, während sie sich Zeit ließ. Ihre Arme zitterten bei der Vorstellung, im letzten Moment könnte noch jemand vorspringen und Anspruch auf das Kind erheben. Sie blieb noch einmal stehen und ging durch den S-Ausgang hinaus. Erleichtert atmete sie auf.
Dann erblickte sie Celeste, die neben einem Mann in Paletot und Melone stand. May nahm an, dass es ihr Ehemann war, der sie vom Schiff abholen wollte.
»Endlich! Tut mir leid, dass man Sie warten ließ, aber es waren so viele abzufertigen.« Celeste lächelte und streckte die Arme nach Ella aus.
»Ist das Mr Parkes?«, fragte May, als der Mann lächelnd den Hut zog.
»Nein, Ma’am, ich bin Jack Bryden.« Sie schüttelte ihm die Hand. Er verstummte und wartete darauf, dass Celeste die weiteren Erklärungen übernahm.
»Das ist einer der Geschäftsführer meines Mannes, den er geschickt hat, um mich nach Hause zu bringen. Ich habe ihm gesagt, dass ich noch nicht bereit bin zu fahren. Ich werde hierbleiben, bis Sie so weit sind aufzubrechen.«
»Aber Sie müssen fahren. Ihre Familie wird darauf brennen, Sie zu sehen«, protestierte May, denn ihr fiel auf, dass der Mann verängstigt wirkte und seinen Hut fest umklammert hielt.
»Grover hat sehr viel zu tun und ist offensichtlich zu beschäftigt, um diese Fahrt selbst zu unternehmen. Mr Bryden wird so freundlich sein, einen oder zwei Tage zu warten, dessen bin ich mir sicher. Ich habe gerade die schrecklichen Nachrichten gehört, May. Von uns haben nur siebenhundert überlebt. Fünfzehnhundert Menschen sind ertrunken. Ich fasse es nicht. All diese Familien, die Hilfe brauchen. Hier wartet Arbeit auf mich, und ich muss an einer Sitzung teilnehmen, bevor ich mich auf den Heimweg machen kann.«
»Aber Madam, ich hatte die ausdrückliche Anweisung, Sie sofort im Zug nach Hause zu begleiten. Die Familie will Sie unbedingt wieder bei sich haben.«
»Bestimmt. Danke, Jack, aber wie gesagt, ich habe hier dringende Angelegenheiten zu erledigen.«
In Celestes Stimme schwang eine Schärfe mit, die May noch nicht gehört hatte. Sie war schockiert über die Anzahl der verlorenen Seelen: all die anderen Witwen und Waisen. Plötzlich war ihr übel, vor Erschöpfung war sie einer Ohnmacht nahe.
»Ich muss mich hinsetzen.«
»Keine Bange, auf uns wartet ein Taxi«, sagte Mr Bryden. »Ich bin mit einem Schienenbus hierhergekommen, in dem ein junger Mann aus Akron saß. Ich will nachsehen, ob er seine Familie gefunden hat. Sind Sie Leuten mit Namen Wells aus Cornwall begegnet?«
Die beiden Frauen schüttelten den Kopf. Auf der
Carpathia
waren zu viele Überlebende verstreut, um Namen zu behalten.
»Lasst uns von hier verschwinden. Man hat ein paar anständige Hotels für uns organisiert, und ich glaube, die kleine Ella braucht eine frische Windel«, befahl Celeste und nahm May am Arm.
Als das Schiff sich leerte, wurde die Gangway eingezogen, und Schweigen breitete sich über der verweilenden Menschenmenge aus. Nur ein paar Nachzügler waren noch übrig. Angelo hatte sich heiser geschrien. Wenn er sein Foto in die Höhe hielt oder sich weiter nach vorn schob, würde Maria vielleicht ihr Gesicht darauf erkennen, würde wissen, dass er hier auf sie wartete, sich umdrehen und ihn finden.
Alle Welt lief durcheinander, auch Ärzte und Krankenschwestern, die leere Rollstühle vor sich her schoben. Angelo hatte die an Land kommenden Passagiere beobachtet: Frauen in Pelzen und Hüten, erschüttert, aber dennoch stolz. Glückliche Verwandte eilten vor und jubelten vor Freude. Viele wurden von Ehemännern und Frauen in die Arme geschlossen; andere wiederum stützten sich auf einen Spazierstock, das Gesicht vor Schreck eingefallen.
Hunderte Helden und Heldinnen strömten vom Schiff, riefen Namen in die wartende Menge. Allein die Zahlen konnte Angelo nicht begreifen. Fast zweieinhalbtausend waren an Bord der
Titanic
gewesen, aber nur siebenhundert waren mit dem Rettungsschiff zurückgekehrt. Die Zahlen konnten doch unmöglich stimmen.
Sein Arm, mit dem er das Foto in die Höhe hielt, schmerzte. Durch den Ausgang B kamen noch immer vereinzelte Passagiere des Zwischendecks. Niemand schaute zu ihm hin. Ihre Augen waren vor Erschöpfung und Angst getrübt. Er wartete und wartete, bis der letzte
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