Schiff der tausend Träume
einem richtigen Grund getan, oder etwas Böses aus eigenem, selbstsüchtigem Bedürfnis? Im Hinterkopf lauerte stets der grauenhafte Gedanke, dass irgendwo jemand den Verlust des eigenen Kindes betrauerte. Hatte das Schicksal sie zusammengeführt? War es der
Titanic
bestimmt unterzugehen? Diese Gedanken plagten sie, und sie fürchtete schon, wenn sie ihnen nachgäbe, würde sie verrückt.
Dann sah sie, wie Ella Pflanzen ausgrub und auf den Rabatten Unfug anstellte. »Hör auf damit, junge Dame, steck sie sofort wieder in die Erde!« Ella war hier, und sie selbst war hier, und nichts konnte daran jetzt etwas ändern.
52
Boston, Oktober 1917
Der Gefreite Angelo Bartolini erwachte schweißgebadet in einer Krankenstation. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass er niedergestreckt wurde. Seine Kehle brannte, und auf seiner Brust lag eine Steinplatte.
»Willkommen im Land der Lebenden, mein Sohn. Sie sind einer der wenigen Glücklichen, die dem Tod ein Schnäppchen geschlagen haben.« Ein Mann in weißem Mantel ragte neben ihm auf und fühlte ihm den Puls.
Angelo konnte nicht antworten. Sein Gehirn konnte nicht übersetzen. Das Denken tat weh, während er an die Decke starrte. Gerade noch war er im Hof vor den Baracken gewesen, hatte Baseball gespielt und auf den Transport zum Schiff nach Europa gewartet. Wo war er jetzt? Alles ging im Schmerz, in der Hitze und eigenartigen Träumen unter. Er hatte Maria mit ausgestreckten Armen gesehen, die ihn lächelnd zu sich winkte, und er hatte das Gefühl gehabt, zu ihr hin zu schweben, und dann … nichts.
»Sie hatten die Grippe, mein Junge, ziemlich schlimm sogar, aber Sie werden es überleben.«
»
Dove sono?
«, fragte er. Er war mit der ersten Welle eingezogen worden, um für die Infanterie ausgebildet zu werden, bereit für den großen Vorstoß in Frankreich.
»Sprechen Sie Englisch …«
Er konnte sich daran erinnern, wie Kathleen ihm am Bahnhof zugewinkt hatte, der kleine Frankie hatte geheult, als er ihn mit kurzem Haar und in fremder Uniform sah. Jacko war noch ein kleines Kind auf dem Arm. Angelo hätte um Freistellung ersuchen können, aber er war Patriot und trat seinen Dienst mit Stolz an. Seine Familie würde auf sich selbst aufpassen. Es gab eine medizinische Untersuchung, eine Prüfung, dann wochenlange Ausbildung, um die neuen Rekruten für die Pflicht in der Schlacht zu stählen. Sie wurden alle in Baracken zusammengepfercht, die in der Sommerhitze keine Luft zum Atmen ließen. Husten und Erkältungen gab es jede Menge, aber so etwas nicht. Er erinnerte sich, dass er in einem Zug zum Hafen gestanden hatte, dass ihm übel war und er fröstelte, seine Glieder waren steif und taten weh. Als sie anhielten, brach er zusammen, die Steinfliesen auf dem Boden kamen ihm entgegen, und er war ohnmächtig geworden. Wie lange lag er schon hier?
»Man hat Ihnen die Letzte Ölung verabreicht, aber Sie sind ein zäher Bursche. Noch immer in den Staaten.«
Angelo konnte nur die Hälfte dessen verstehen, was der Arzt sagte. Er war benommen. »Wann gehe ich?«
»Mal schön langsam. Sie bleiben hier, bis wir Ihnen sagen, dass Sie gehen können. Zuerst müssen Sie essen und etwas Fleisch auf die Rippen bekommen.«
Er versuchte noch einmal sich aufzurichten, doch ihm wurde schwindelig. Wo waren seine Kameraden, Ben und Pavlo, all die Burschen, mit denen er wochenlang in der Ausbildung war? Jetzt konnte er kaum atmen, als wäre ein Loch in seiner Brust und die Luft zu knapp. Die Schwestern brauchten Tage, um ihn auf den spindeldürren Beinen zum Laufen zu bringen. Was war mit seinen Muskeln passiert? Angelo schämte sich nur, nicht bei den anderen Männern zu sein. Er steckte an diesem schrecklichen Ort fest, tagtäglich kamen kranke Soldaten hinzu und tauschten die Plätze mit denen, die nachts auf Leichenbahren hinausgerollt wurden. Was zum Teufel war los?
Sein einziger Trost waren Kathleens Briefe. Die Grippe, die er überstanden hatte, wütete an der gesamten Ostküste, besonders schlimm jedoch in Philadelphia und den Häfen, in denen sich die Soldaten sammelten. Kathleen gurgelte mit einem Gebräu, von dem Salvi schwor, es werde helfen, und bisher waren sie verschont geblieben. Ein schöner Held war er ja bis jetzt gewesen. Aber als der Arzt ihn untersuchte, wurde seinem Stolz der letzte Schlag versetzt.
»Sie werden entlassen und ausgemustert«, sagte er und zeigte auf Angelos Herz. »Da haben Sie einen Schaden davongetragen. Aber eine langsam tickende
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