Schiffe versenken
genau, während er blitzschnell seine Chancen abschätzte und näher trat. Vom Hafen aus führte nur eine einzige Gangway etwa dreißig Meter vom Heck entfernt aufs Schiff hinauf zu dem Block mit den Unterkünften. Darüber sah er den Schornstein, davor die Brücke. Die Steuerbordbrückennock ragte über einen offenen Niedergang hinaus; dahinter hing ein Rettungsboot, das sich aber nicht als Versteck eignete, denn obwohl es nicht eingesehen werden konnte, würde es bei dem geringsten Geräusch, das er verursachte, jeden auf ihn aufmerksam machen, der sich gerade auf dem Niedergang oder dem Seitendeck aufhielt. Ein zweites Rettungsboot sah vielversprechender aus. Es hing über der Achterreling über dem offenen zweiten Deck, war von oben durch das Peildeck vor Blicken geschützt, und die Geräusche würden sich mit denen des dritten Decks vermischen. Außerdem war auf diesen Decks ohnehin weniger los als auf der Brückennock und dem vorderen Niedergang, also traf er seine Entscheidung: Das achtern angebrachte Rettungsboot war das geeignetste.
Hamnet ging ruhigen Schrittes auf das Schiff zu, das gerade beladen wurde, auf dem aber kein Mensch zu sehen war und nur die Kräne schufteten. Jetzt oder nie – noch sechzig, fünfzig, vierzig Meter!
Oben schepperte irgendetwas, und als Hamnet hochsah, erblickte er eine kleine Gestalt in Overall und orangefarbener Sicherheitsweste, die mit großen Schritten über die Gangway auf ihn zukam. Irgendwie schaffte es Hamnet, wie selbstverständlich weiterzugehen und sich ganz auf seine Schritte zu konzentrieren. Der Mann von der Crew erreichte den Kai, noch ehe Hamnet an der Gangway war. Hamnet schenkte ihm sein freundlichstes Lächeln, und der Mann, dessen Gesicht vom Helm überschattet war, nahm kurz davon Notiz, grüßte schnell zurück und tippte sich an den Kopf, was Hamnet zunächst nicht verstand, bis ihm klar wurde, dass er keinen Sicherheitshelm trug. Er blieb stehen, und einer spontanen Eingebung folgend, wedelte er mit seiner Reisetasche. Der Mann verstand und sagte in einem Manchester-Akzent und leise missbilligendem Ton: »Sie sollten die Tasche umhängen, Vater!«, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern überließ Hamnet seinem Schicksal und eilte weiter zu dem Kran, der das Schiff am Bug belud.
Hamnet stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und machte sich noch etwas zittrig an den Aufstieg. Der Trick hatte funktioniert, denn die Priester von den christlichen Seefahrtsheimen waren in allen Häfen der Welt vertraute Besucher an Bord, die man selten genauer unter die Lupe nahm. Sie kümmerten sich üblicherweise um ein paar Matrosen, lächelten und verwiesen mit einer fürsorglichen Mischung aus göttlichem Auftrag und Hinweisen auf billigen Alkohol in ihrer Mission. Die Tarnung war perfekt, und Hamnet zögerte nur noch einen winzigen Augenblick, ehe er seinen Weg fortsetzte und oben scharf links zum Heck abbog. Von dort nahm er den Niedergang zum zweiten Deck und stand nach ein paar Schritten direkt in Höhe des Rettungsboots. Langsam ging er quer über das Deck darauf zu. Die Plastikpersenning war mit elastischen Bändseln vertäut, und er schaute über die Schulter zurück und dann nach oben. Weder auf diesem Deck noch weiter oben war eine Menschenseele zu sehen. Warum auch? Die Männer mussten ihren Zeitplan einhalten und das Laden zu Ende bringen.
Neben dem Rettungsboot blieb Hamnet stehen und drehte sich langsam um. Der Kranführer konnte ihn aus seiner Kabine hoch oben keinesfalls entdecken, aber der Mann aus Manchester stand immer noch unten am Kai, und Hamnet verzog sich eilig auf die Backbordseite des Bootes, um aus seinem Sichtfeld zu verschwinden. Dann löste er geschickt ein paar Bändsel, zog die Persenning zurück, warf seine Reisetasche über das Dollbord, kletterte über die Reling und folgte der Tasche. Die Bändsel von innen wieder zu schließen dauerte etwas länger, und seine Hände begannen zu zittern, während er an den Haken herumfingerte. Aber schließlich hatte er es geschafft, lag unter der Abdeckung, und niemand hatte ihn entdeckt. Er sank auf den Holzplanken zusammen, und die nervöse Anspannung wich. Jetzt hatte er nur noch eine einzige Aufgabe zu erledigen, und das auch erst in drei Tagen – ein beruhigender Gedanke, der ihn einschlafen ließ.
Hamnet wusste erst nicht, was ihn geweckt hatte. Er tauchte so plötzlich aus dem Schlaf auf, dass er sich nicht sofort dem gleichmäßigen Rumpeln der Motoren unter ihm, der feuchten
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