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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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behaupteten, sie würden einen Mandelgeruch verströmen. Als Kind hatte sie den bitteren Duft gerochen.
    Küstenerkundungstrupps kehrten blutverkrustet vor Insektenstichen an Bord zurück. Naß, naß sei das Innere der Insel, erzählten sie, Sumpf und Moor, Flüsse und ein Teich am anderen, wo es vor metallisch krächzenden Vögeln wimmelte. Die Schiffe schrammten um die Küstenzacken. Und der Matrose im Ausguck sah Schatten von Karibus im Nebel auftauchen.
    Später war die Gegend bei manchen dafür bekannt, daß sie bösartige Geister hervorbrachte. Die Hungersnöte im Frühling zeitigten knochige Köpfe, knotige Gelenke unter Fleisch. Was für eine verzweifelte Mühsal, am Leben zu bleiben, sich durch harte Zeiten zu kratzen und zu scharren. Das alchimistische Meer verwandelte Fischer in nasse Knochen, trieb Boote zum Kabeljau hinaus, warf sie aufs Küstenvorland. Sie erinnerte sich an die Erzählungen aus alten Mündern: der Vater, der seine ältesten Kinder und sich selbst erschoß, damit der Rest von den Mehlkrümeln leben konnte; Robbenfänger, auf einer Eisscholle kauernd, die wegen ihres Gewichts vom Wasser überspült war, bis einer ins Meer sprang; Sturmfahrten, um Arzneien zu holen – immer das Falsche und zu spät für den von Krämpfen geschüttelten an Land Gebliebenen.
    Seit ihrer Zeit als junges Mädchen war sie nicht mehr in diesen Gewässern gewesen, aber es brandete wieder in ihr hoch, das hypnotische Brodeln des Meeres, der Geruch nach Blut, Wetter und Salz, Fischköpfen, Fichtenholzrauch und stinkenden Achselhöhlen, das Rappeln von Felsen wie Seifenkugeln in fauchenden Wogen, Lummen, der Geschmack von hartem, eingeweichtem und gekochtem Brot, das Schlafzimmer unter der Dachrinne.
    Doch jetzt, hieß es, sei es mit dem harten Leben vorbei. Die Kräfte des Schicksals geschwächt von der Arbeitslosenversicherung, der aufflammenden Hoffnung auf Geld aus Ölbohrungen vor der Küste. Alles war jetzt Fortschritt und Besitz, alles ein Drängen und Schieben. Hieß es.
    Fünfzehn war sie gewesen, als sie von Quoyle’s Point fort-zogen, siebzehn, als die Familie in die Staaten ging, ein Tropfen in den Fluten von Neufundländern, die fortbrausten von den abgelegenen Fischerdörfern, Inseln und versteckten Buchten, wie Wasser fortbrausten von Isolation, Ungebildetheit, Hosen aus abgenutzten Polsterstoffen, zahnlosen Gebissen, fort von verdrehten Gedanken und rauhen Händen, von der Verzweiflung.
    Und ihr Vater, Harold Hamm, einen Monat vor ihrem Aufbruch gestorben, umgekommen, als ein Knoten, der einen Ladehaken sicherte, nicht hielt. Beim Ausladen von Fässern mit Nägeln. Die Schlinge rutschte, das Faß krachte herunter. Seine eisenberingte Kante traf ihn im Nacken, renkte ihm Wirbel aus und zerschmetterte sein Rückgrat. Gelähmt verschied er auf dem Dock, ohne sprechen zu können; wer wußte, welche Gedanken gegen die Flutlinie seines zusammenschnurrenden Gehirns brandeten, als Frau und Kinder sich über ihn beugten und flehten: Vater, Vater. Keiner sagte seinen Namen, nur das Wort ›Vater‹, als wäre die Vaterschaft das Größte in seinem Leben gewesen. Sie weinten. Sogar Guy, dem es nur auf sich selbst ankam.
    Es ist so merkwürdig, dachte sie, dorthin zurückzukehren – mit einem verwitweten Neffen und Guys Asche. Sie hatte dem schluchzenden Quoyle den Behälter weggenommen und ins Gästezimmer hinaufgetragen. Hatte wachgelegen und gedacht, daß sie Guy in eine Plastiktüte vom Supermarkt schütten, die Tragegriffe zuschnüren und ihn in die Mülltonne werfen könnte.
    Bloß der Gedanke.
    Fragte sich, wer sich mehr verändert hatte, der Ort oder sie selbst. Es war ein machtvoller Ort. Sie schauderte. Jetzt war es bestimmt besser. Lehnte sich auf die Reling und blickte in den dunklen Atlantik, der am Abgrund der Vergangenheit schnupperte.

5
    Ein Rollstek
    »Mit einem Roll- oder Kneifstek kann man einen Besen, der keine Kerbe hat, aufhängen, sofern die Oberfläche nicht zu glatt ist.«
     
    DAS ASHLEY-BUCH DER KNOTEN

    Auf dem Boden hinter dem Sitz knurrte Warren. Auf einem Highway, der von Güterlastwagen eingefurcht war, steuerte Quoyle die Westküste der Großen Nördlichen Halbinsel entlang. Der Highway verlief zwischen den kabbeligen Wellen der Belle-Isle-Straße und Bergen wie blauen Melonen. Jenseits der Meerenge das schwermütige Labrador. Lastwagen schaukelten in Karawanen gen Osten, die Fahrerkabinen aus rostfreiem Stahl voll Nebelperlen. Fast erkannte Quoyle den drohenden Himmel

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