Schiffstagebuch
Formel ergänzen sie sich hier gegenseitig. Wer kniet, erhebt sich nicht, auch nicht im übertragenen Sinn. Auf
seinem T-Shirt die Initialen meiner Bank, ABN AMRO.
In der Kirche ein Wandgemälde des Franciscus Xaverius. Er stößt in heiliger Empörung eine indianische Götzenfigur um. Wer gesiegt hat,
bringt den eigenen Gott mit, und diese Kirche ist seine goldene Grotte. Ein indianischer Priester ist im Begriff, ein Opfer zu durchbohren, das mit
ausgestreckten Armen fast wie ein Gekreuzigter auf einem großen Stein liegt. Links darüber wird das Kreuz des Sohnes des neuen Gottes aus Spanien
errichtet, der sich selbst geopfert hat. Auf dem nächsten Bild steht der Heilige barfüßig in der prachtvollen Landschaft und weist einigen seiner
franziskanischen Ordensbrüder den Weg. Die bunten Federn eines indianischen Häuptlings liegen auf der Erde, er wird getauft. Ein ganzes Volk wartet hinter
ihm auf dieselbe Behandlung. Im Himmel sieht Maria zu.
Morelos’ Wahlspruch
Aus Gold auch sie, die Gitter, aber doch Gitter. Wer sich dahinter befindet, ist gefangen, auch wenn er sich selbst eingeschlossen hat. Einst nahm Mexiko Abschied von der Kirche, die, wie immer, wiederkam. Auch die Nonnen gingen, um wieder zurückzukehren. Als sie zum zweitenmal gingen, ließen sie ihre Gitter zurück. Geschichte wird hier mit Blut und Gold geschrieben. An Morelos‘ Geburtshaus ist in goldenen Lettern zu lesen: »Sterben istnichts, wenn man für das Vaterland stirbt.« Und so starb er, wie Hidalgo, vor einem Exekutionskommando. »Wo ich geboren bin, dort war der Garten des Neuen Spaniens.« Seine Unterschrift ist ein kalligraphisches Spinnennetz aus goldenen Linien. An der Kathedrale eine in sich gewundene barocke Verzierung. Aus dem Labyrinth gibt es hier kein Entrinnen.
Templo de la Merced, die Kirche der Gnade. Manche Tore sehen so aus, als könne man durch sie nur ein treten. Estípite heißt der Baustil der Pfeiler an dieser Fassade. Sie stehen für sich, als hätten sie nichts mit der Kirche zu tun. Irgendwo in der Mauer aus unbearbeitetem Stein eine durchbrochene Verzierung aus Ton, ein Rad in einem Rad. Ich habe ein halbes Leben in dem Spanien verbracht, das ich hier wiederfinde und das an der Macht über dieses Land festgehalten hat, bis es nicht mehr ging. Das jetzt unabhängige Mexiko führte einen verhängnisvollen Krieg mit Amerika, in dem es Texas und Arizona verlor. Was folgte, war ein unaufhörlicher Kampf zwischen gegensätzlichen Interessen, eine Geschichte von Revolutionen, Diktaturen und Reformen, dreißig Präsidenten in fünfzig Jahren, extremem Egozentrismus und Heldenmut.
Auch die Jesuiten wurden im neunzehnten Jahrhundert vertrieben. Aus ihrer Kirche ist eine Bibliothek geworden. Als ich hineingehe, ist
der Straßenlärm plötzlich verschwunden. Aus einer hohen Kuppel fällt Licht. Bücher an allen Wänden, hier möchte ich sofort einziehen und alles lesen. Über
mir ein Umgang mit einer hohen Balustrade, Bücher bis hinauf zur Decke. Um mich herum wird gelesen. Ich gehe an den Büchern entlang, jedes von ihnen ein
Universum, in dem ich mich verlieren könnte. Die Annalen Italiens , 43 Bände. De la Sagra, Voyage en Hollande . Lafuente, Historia de
España , 24 Bände. Cuvier, über fossile Gebeine. Und 23 Bände Geheime Memoiren . Ich schlage einen von ihnen auf, aber da steht nicht, von wem
die Erinnerungen sind. Geheim ist geheim.
Abend. Ich habe in der Bar de las Rosas gegessen, vier Tische mit Plastikdecken. Geschmortes Schweinefleisch in einer roten, scharfen Soße aus achiote und dem Saft von Bitterorangen. Schon seit Tagen steht eine Geige zum Verkauf. Die drei Frauen, die kochen und bedienen, lachen den Fremden an, der schon das dritte Mal hier ist und wieder zapote will, Eis, außen grün und innen schwarz. Draußen das trockene Krachen von Feuerwerk, dann die schweren Glocken der Kathedrale. Scheinwerfer setzen den Trachitstein und die blauweißen Kacheln der Kuppel in eine eigenartige Glut, das Auge schweift von Barock zu Klassik und wieder zurück, wie immer denke ich bei solch aufwärtsstrebenden Bauten an eine Raumstation.
Morelia, Templo de las Rosas, Nonnenkloster
Abend in Mazamitla
Auf dem Rückweg nach Guadalajara mache ich in Mazamitla halt. Es liegt in den Bergen, kalt ist es hier. Die Hauptstraße mit dem
naßglänzenden Kopfsteinpflaster ist gesperrt, in Mazamitla wird gefeiert. Ein Mann auf einem Pferd zeigt mir den Weg zur »Herberge des
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