Schiffstagebuch
Stunden zwischen den Blumen sitzen und denken, es sei noch immer 1600. Es gibt alles
mögliche zu kaufen, indianische Web- und Töpferwaren, Erzeugnisse des Kupferschmieds, Körbe aus geflochtenem Schilf, aber niemand behelligt einen. Einst
lebte hier eine alte Nonne, die geglaubt haben muß, das Paradies befinde sich auf Erden. Auch in der nahe gelegenen Kirche ist die Zeit stehengeblieben,
die Heiligenfiguren sind bekleidet wie richtige Menschen, und vielleicht wirkt deshalb das Leiden so echt, Christus ist ein Mann in Violett, der vor
Schmerzen vergeht, man verspürt die Neigung, ihn zu berühren. Das gesamte Pantheon steht hier in den vorgeschriebenen Haltungen parat mit den jeweiligen
Attributen der Unschuld und des Märtyrertums, die in hundert Jahren niemand mehr erkennen wird. Das Banner des himmlischen Sieges, der Sohn Gottes jetzt
in einer anderen Gestalt, sein Herz wie ein Gegenstand vorn auf der Brust, der Engel mit den Fledermausflügeln und der Lanze, um den wütenden Drachen zu
seinen Füßen zu töten, Märchenfiguren aus einer anderen Kultur, die die Mythologie der Indios abgelöst hat. Wie das vor sich gegangen ist, sieht man in
der Biblioteca Gertrudis Bocanegra. Auf dem Wandgemälde Worte, die genauso direkt sind wie das Plakat der alten Frau auf dem Platz, hier nimmt man kein
Blatt vor den Mund. Der Raum unter dem Tonnengewölbe ist lang und schmal. Es gibt Lesepulte, aber das Licht darüber funktioniert nicht. Der Katalog
befindet sich in schmalen Schubladen mit abgegriffenen maschinengeschriebenen Karteikarten. Der Bibliothekar ist eingeschlafen, den Kopf auf den
Armen. Die Bücher riechen nach sehr alten Büchern, lediglich in einer entfernten Ecke stehen drei Computer, der Geist des Wandgemäldes von 1941 ist ein
Geist geblieben, voll guter Absichten und hochfliegender Rhetorik, doch die Wirklichkeit draußen ist nach wie vor eine Wirklichkeit nie eingelöster
Versprechen. Das Wandgemälde selbst, an der Mauer dessen, was früher die Apsis der Kirche gewesen sein muß, erzählt die Geschichte des Volkes, der
Purépecha, das hier früher gelebt hat und die Sonne und den Mond als Götter verehrte. Die Sonne befruchtete tagsüber die Pflanzen, der Mond hielt nachts
Wache, ein Ehepaar, das auf erotische Genüsse verzichtete, um die Welt in Gang zu halten. Die Geschichte läuft von oben nach unten, der Vulkan, die ersten
Indiostämme, die hierherkommen und sich rund um den vielfarbenen See ansiedeln, in dessen Mitte die Insel namens Janitzio liegt, »das trockene Haar des Maiskolbens«. Der gesamte Kosmos der Purépecha ist hier dargestellt, der Grabhügel, in dem sie die Gefangenen ihrer fortwährenden Kriege bestatteten, die lieber hatten sterben wollen, als Sklaven zu werden. Später kommen andere Gegner, die spanischenKonquistadoren mit ihren grauenhaften Folterpraktiken, mit denen sie entgegen ihrem Versprechen den letzten König der Purépecha zu Tode brachten. Sein Ende ist ebenfalls dargestellt, der an einen Pfahl gebundene König wird auf Befehl des Sadisten Nuño de Guzmán mit der Garrotte erwürgt, einem eisernen Band, das langsam immer fester angezogen wurde. Spanische Traditionen sterben langsam. Bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinein wurden Menschen während des Franco-Regimes auf diese Weise umgebracht. Das gemalte Unheil nimmt kein Ende. Rechts von mir, fast auf Augenhöhe, sehe ich Cortés, der sämtliche Dokumente und Chroniken der indianischen Völker verbrennen ließ, die der Nachwelt etwas über die Zeit vor der Eroberung durch die Spanier hätten berichten können. Farbe auf einer Wand, die die Geschichte eines Landes und eines Volkes erzählt, den Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier, die ihren gestohlenen Besitz nicht wieder hergeben wollten, Hidalgos Schrei, der 1810 die Unabhängigkeit Mexikos einleitete, den Märtyrertod der Indiofrau Gertrudis Bocanegra, die ihren Namen dieser Bibliothek gegeben hat und einst, 1817, auf ebendiesem friedlichen Platz hingerichtet wurde, auf dem der Bischof noch immer auf seinem Sockel steht. Daß er anders gehandelt hätte, will das Gemälde auch noch erzählen. Zwei scheinheilige, korrupte Spanier knien vor ihm, doch er deutet auf Utopia , das Buch seines Beinahe-Zeitgenossen Thomas More, der hinter ihm steht.
Demonstration in Pátzcuaro
Pátzcuaro, Biblioteca Gertrudis Bocanegra, Wandgemälde von 1941
Marterung Gertrudis Bocanegras,
Fresko in der nach ihr benannten
Weitere Kostenlose Bücher