Schiffstagebuch
Hügels der
Nachtigallen«, Cabañas Cotina de los Ruiseñores, Zimmer mit Wänden aus Baumstämmen, ein Gefühl von Wildem Westen. Ich gehe ins Dorf zurück, aus allen
Ecken höre ich Trommeln und Trompeten, indianische Gesichter unter großen Hüten und Mützen, eine Kinderarmee auf den Beinen, ernst ziehen sie durch die
schmalen Straßen mit den niedrigen weißen Häusern. Dies ist eine Gemeinschaft, die ganz für sich lebt im weiten Land ringsum, anscheinend bin ich der
einzige Ausländer, und ich lasse mich mit der lauten Musik zum Hauptplatz und dann zur Kirche mit treiben. Überall riecht es nach
Fleisch, das mit scharfen Pfefferschoten in pulque geschmort wird. Nonnen, Mädchen mit Blumen, der Priester in vollem Ornat, in der Kirche das
hohe, hin und her flutende Wogen des Gesangs. Ich schaue auf all die weltverlorenen indianischen Gesichter und denke an das, was Alberto Manguel über
seine Jugend in Buenos Aires gesagt hat: »Wir waren blind für die kupferfarbenen Gesichter, denen wir täglichauf der Straße begegneten
und die immer zahlreicher wurden, je weiter wir uns von der Stadt entfernten.« Erst als er die Schriftsteller zu lesen begonnen hatte, die über die Armut
seines Kontinents schrieben, waren ihm die Augen aufgegangen, und er konnte die andere Seite der Welt sehen, in der er lebte. Hier ist es nicht
anders. Als ich lange nach Mitternacht durch den dichter werdenden Nebel nach Hause gehe, höre ich noch immer den Klang der Trommeln, der mich aus dem
Dorf bis in den Schlaf verfolgt.
Die Farben von Campeche
Man kommt aus dem Trubel Mexico Citys angeflogen, die Maschine beschreibt einen weiten Bogen entlang einer flachen Küste, ein paar Stunden später geht man durch eine schmale Straße mit ockerfarbenen, himmelblauen, bonbonrosa- und sandfarbenen Häusern und glaubt nicht mehr, daß man sich noch im selben Land befindet. Über all diesen Farben wölbt sich wie eine hohe Decke das Himmelsblau, die gefallsüchtigen Häuser haben kleine geometrische Verzierungen, Fialen, Schnörkel und Kringel, plötzlich ist alles tropisch, die Zeit dehnt sich und läßt es langsamer angehen, man spaziert am Meer entlang und dann zum großen Platz mit den melancholischen hohen Bäumen, auf dem schon wieder ein Fest im Gange ist, Kinder tanzen und malen, Erwachsene lauschen einem Opernsänger bis spät am verzauberten Abend.
Bevor ich dorthin fuhr, hatte ich eine Ausgabe der Zeitschrift Artes de México gesehen, die sich mit Campeche befaßte. Der erste Eindruck war
der eines Ortes, den es aufErden nicht wirklich geben konnte, als schwebte die Stadt in einer eigenen Zeiteinheit, der sich der Körper anzupassen hatte. Fremde Städte haben ihr eigenes Gesellschaftsspiel, man kennt weder die Regeln noch die Spieler und bewegt sich hindurch als der Fremdkörper, der man ist, läßt sich von den Geheimnissen umspülen, liest die Lokalzeitung mit der lokalen Erregung, den Intrigen der kleinen und der großen Politik, und genießt, daß man zu alldem keine Meinung haben muß. Man wird Teil des festlich gestimmten Publikums, das herbeiströmt, um den berühmten Sänger aus der Hauptstadt zu hören, sieht den prächtig ausstaffierten Kindern zu, ißt etwas, trinkt etwas, lauscht dem leidenschaftlichen Orchester in einem Tanzschuppen. Die Stadt liegt langgestreckt am stillen Meer, ich höre das Flüstern des Wassers, als ich den endlosen Boulevard, den Malecón, entlanggehe. Die Silhouette der Stadt liegt links von mir, die Kathedrale, die festungsartigen Stadtmauern mit ihren baluartes , Bollwerken, aus denen früher Kanonenrohre zum Meer zeigten, gegen die Piraten, die die Stadt regelmäßig plünderten und verwüsteten. Ein Hinterland mit nie ganz befriedeten Indios, eine Bevölkerung aus Sklaven, Mestizen, Spaniern, Mönchen, Söldnern und Abenteurern, tropisches Klima im Regenwald, in dem die geheimnisvollen Ruinen der Maya in Gestalt gigantischer Steinmassen verborgen lagen, ganze und halbe Sätze kommen mit dem Wind aus dem Landesinneren angeweht, alles, was ich lese, hat etwas über die Vergangenheit zu erzählen, ich bin in ein kleines Museum in der baluarte San Carlos gegangen, wo ich schaue und lausche. Haematoxylum campechianum heißt der Baum, der den Farbstoff palo de tinte lieferte, der in jener Zeit weltweit zum Färben von Wolle gebraucht wurde und dem Campeche seinen Reichtumund das anhaltende Interesse von seiten der Spanier und der Piraten zu verdanken hatte. Der berühmteste
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