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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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    Die Utopie hat sich für Mexiko nicht erfüllt. Aus der Brust von Gertrudis Bocanegra strömt Blut, ohne Blut geht hier gar nichts. Auf dem Schild, das neben ihr in die Höhe gehalten wird, steht ein prachtvoller Text aus der ersten mexikanischen Verfassung, und doch stimmt hieretwas nicht. Jetzt, da ich auf Augenhöhe mit ihm stehe, lese ich, daß er die Kirche, die auch heute noch eine gebieterische und konservative Rolle in der Politik Mexikos spielt, so ungefähr für heilig erklärt, weil sie das einheimische »Götzentum« ausgerottet hat. Das konnte sie freilich nur Hand in Hand mit den Eroberern tun. Ein anderes Schild, das merkwürdigerweise im Begleitführer nicht erwähnt wird, aber so niedrig hängt, daß ich den Text lesen kann, sagt es ganz ungeschminkt: Die Konquistadoren haben die Indios zu Märtyrern gemacht, ausgeraubt und zu Sklaven und Bettlern erniedrigt.
     
    Einige Stunden später sitze ich zwischen deren Nachfahren in einem der langen, schmalen Boote, die über den See zur Insel Janitzio und
     wieder zurück fahren. Auf Janitzio und in den Dörfern rund um den See wird alljährlich zu Allerseelen ein indianischer Totenkult begangen, dessentwegen
     Leute aus ganz Mexiko auf die Insel kommen, wer dabeisein will, muß schon Monate vorher einen Platz bestellen. In der Nacht fahren die Boote mit singenden
     Menschen auf dem See hin und her, geschmückt mit brennenden Kerzen und Blumen. Es ist die Nacht der Toten, sie werden gerufen, bekommen Geschenke, man
     läßt sie nicht allein in ihren Gräbern, jeder besucht sie. Die Indiofrauen um mich herum haben sich in ihre gewebten Umschlagtücher gehüllt. Die Insel
     liegt als vager Schemen in der Ferne, das Wasser glänzt wie ein polierter Glasfußboden. Wir warten. Die Frau neben mir hat ein Gesicht aus tausend Falten
     über einem karminroten Tuch. Sie sitzt während der ganzen Fahrt unbeweglich da. Ich lese die Namen der anderen Boote, Gaviota , Victoria III , Zezanguri . Ein fröhlicher Eismann kommt an Bord. Auf einer Holzkiste steht, daß das Eis von Puzumaro in der ganzen Welt berühmt ist. »¿Pruebas?« fragt er, und das bedeutet, daß wir alle einen Happen zum Probieren bekommen. Das Wasser schwappt gegen die Stahlwände des Bootes. Es hat kein Ruderhaus, nur einen Stuhl hinter dem Steuer mit einem kleinen Spiegel darüber, an dem ein Kruzifixschaukelt. Ich lese die Zeitung vom Morgen. Dieses Jahr bisher 700 Tote im Drogenkrieg.
    Morelos-Standbild auf der Insel Janitzio
    Unterwegs weiße Reiher zwischen den Schilfstengeln im bräunlichen Wasser. Als wir ankommen, entpuppt sich die Insel als überraschend hoch. Über allem ragt die Statue von Morelos auf, dem Priester, der gemeinsam mit Hidalgo der große Held der mexikanischen Geschichte ist. Wer zu ihm will, muß endlose Treppen erklimmen, man sieht den See immer tiefer unter sich, kommt vorbei an einem Friedhof mit hellfarbenen Gräbern, als gäbe es hier jeden Tag ein Fest, und schließlich, gerade als man aufgeben will, steht man oben vor dem Standbild eines Riesen, das aus Quadern erbaut ist. Sogar die Hand, mit der der steinerne Gigant die Verfassung Mexikos schrieb, ist zu einer Faust geballt, die aussieht wie ein quadratischer Block. Zu seinen Füßen Kanonen und ein bronzenes Buch, größer als ein Mensch, in dem die Sätze seiner Verfassung geschmiedet stehen. Sein Kopf ragt weit in den blauen Himmel hinein, aus dieser Höhe muß er ganz Mexiko überblicken können. Ob er zufrieden wäre mit dem, was er sähe? Würde er es wiedererkennen? Labyrinth der Einsamkeit hat der Dichter Octavio Paz sein Land einmal genannt. Der Weg, den es seit Morelos‘ Tod zurückgelegt hat, ist gewaltig, eine Geschichte von Entwicklung, aber auch von Korruption, von Reichtum und Modernität, aber auch von Krieg und Revolution, Ausbeutung und Armut und deren Folgen, ein verborgener Guerillakrieg im Süden und die offene Flucht in das andere Amerika im Norden. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Freund in Mexico City. Er hatte mich vor Überfällen gewarnt, die manchmal auf Landstraßen vorkommen, zugleich aber gesagt, er betrachte das alseine Art Steuereintreibung, »weil wir nun mal keine Steuern zahlen«. Danach hatte sich das Gespräch den unvorstellbaren Kunstschätzen aus präkolumbischer Zeit zugewandt und der Geschichte der Azteken und Maya. Alles schön und gut, sagte er, aber du weißt ja, Geschichte kann man nicht essen und Ruinen auch nicht. Von beidem haben wir genug,

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