Schiffstagebuch
und wir sind stolz darauf. Aber auch Stolz kann man nicht essen. Darum ziehen sie nach Norden, dort gibt es weniger Geschichte, aber mehr Geld.
Die Ruinen von Tzintzuntzan
Manche Wörter sind unwiderstehlich. »Tzintzuntzan«, wenn ich es laut ausspreche, habe ich das Gefühl, drei Treppen auf einmal hinaufzufliegen. Hier befand sich einst, lange bevor die Spanier kamen, die Hauptstadt der Tarasken, einer hochentwickelten Kultur, die in ständigem Krieg mit den Azteken lag. Ihre Nachfahren leben in den fast ausschließlich indianischen Dörfern rund um den See, ihre Sprache, das Purépecha, das noch immer gesprochen wird, stammt vom alten Tarascan ab. Tzintzuntzan bedeutet »Ort der Kolibris«. Ich wandere zwischen den Überresten der ehemaligen Hauptstadt umher. Es ist die tote Stunde des Mittags, die Kirche, in der der Christus liegt, der jedes Jahr aus seinem gläsernen Sarg gehoben wird, um von neuem gekreuzigt zu werden, ist geschlossen. Die Arme der Figur lassen sich ausstrecken, die Beine übereinanderschlagen, Pilger aus dem ganzen Land kommen in Ketten hierher, Freunde haben mir von den apokalyptischen Bildern erzählt, wenn der Leichnam des Gekreuzigten durch die dunklen Straßen des Dorfes zum großen verfallenenGarten an der Kirche von San Francisco getragen wird, eine makabre Prozession, die unter den unvorstellbar alten Olivenbäumen endet, die der Überlieferung zufolge im sechzehnten Jahrhundert gepflanzt worden sind. Man glaubt es sofort. Auf einem Podest im Freien sitzt eine große Klasse von Kindern, denen vorgelesen wird, ich höre den Singsang der Lehrerin im mexikanischen Spanisch und denke, so würde ich auch gern unterrichtet werden, mit einer menschlichen Stimme um mich, im Freien, unter fünfhundert Jahre alten Bäumen, die aus dem Spanien Karls V. von dem Bischof hergebracht worden sind, der auch heute noch auf dem großen Platz von Pátzcuaro steht. Außerhalb des Dorfes liegen die Ruinen, die ihre fernen Vorfahren hinterlassen haben, Las Yácatas, geheimnisvolle Konstruktionen aus Basalt und Vulkangestein auf einer weiten, freien Fläche hoch über dem See. Es ist hier sehr still, die anderen Besucher sind Figuren in der Ferne. In der Sprache der Purépecha und auf englisch wird einem auf großen Tafeln das Rätsel dieser Bauten näherzubringen versucht, eine Geschichte von Schädeln der Feinde, die man als heiligen Vorrat bewahrte, von Stapelplätzen, in denen die Könige beigesetzt wurden, doch alles, was ich sehe, sind gewaltige Bauten ohne Zugang und damit ohne irgendeinen anderen Inhalt als Erde und Schutt, Formen menschlicher Ordnung in der zufälligen Ordnung der Natur, runde, von Menschen aus Steinen errichtete Hügel, trapezförmige Terrassen, die auf düsteren, ohne Zement übereinandergeschichteten Basaltblöcken ruhen. Es gibt keinen Zugang und keine Antwort auf das, was man gern fragen würde, ein anderes Denksystem hat hier auf einer freien, hochgelegenen Fläche über dem ringsum ausgebreiteten Land und dem See mit den fernen Inseln daunten ein Zeichen gesetzt, das man am besten als das akzeptiert, was es ist – man legt die Hand an einen der großen Steine und denkt daran, daß andere Hände sie einst vor Jahrhunderten hingesetzt haben, einen nach dem anderen, und daß man so mit diesen menschlichen Händen verbunden ist, ohne daß je ein Kontakt zustande käme.
Morelia
Die heilige Jungfrau von Guadalupe ist die Schutzpatronin Mexikos. Ihre Kirche in Morelia muß daher schöner sein als alle anderen. Wenn Gold schön ist, dann stimmt das, denn in dieser Kirche ist alles aus Gold, es tanzt einem vor den Augen in Schnörkeln, Mustern, Rahmen, Decken, Tafelbildern, orgiastisch, in geometrischen Linien und Flächen angeordnet und gerade durch diese Ordnung hysterisch, ich habe das Gefühl, daß ich es einatme, daß ich innerlich mit Gold beschlagen werde.
Der Weg zur Kirche ist ein steinerner Weg, Stein von der Farbe der Landschaft draußen, karg, arm wie die Farbe der Ebene. Dann sehe
ich, wie er näher kommt, auf dem langen Weg, den er ab dem Aquädukt auf Knien zur Kirche zurücklegen muß. Er ist etwa vierzig, kräftig gebaut, und er hat
seinen Freund dabei. Er befindet sich auf dem Weg zu dem Gold, aber er tut Buße. Jedesmal, wenn er wieder die paar Meter vorangekommen ist, die der
Teppich lang ist, hebt sein Freund diesen hinter ihm auf und legt ihn vor ihm wieder auf den Boden. Gold und Armut, Armut und Schmerz, Gold und Macht,
durch eine geheimnisvolle
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