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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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die alte Annabelle. Sie standen auf der Straße und unterhielten sich, genau wie ihre Mom und Marnie früher und wie Quinn und Cameron es heute manchmal taten.
    Beim Anblick der geblümten Kleider und Sonnenhüte kam ihr die Galle hoch. Nichts war auf dieser Welt so, wie es sein sollte. Naturgemäß müssten die Großmütter als Erste sterben und Quinns Mutter noch leben. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an eine derart bodenlose Ungerechtigkeit.
    Sie atmete schwer, als sie sich wieder ihrem Fenster zuwandte. Es war wirklich gut, eine künstlerische Meisterleistung. Quinn hoffte inständig, es möge Tante Dana so gut gefallen, dass sie in Erwägung zog, ein für alle Mal hier zu bleiben. Quinn liebte ihre Großmutter, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie es ertragen würde, für den Rest des Lebens mit ihr unter einem Dach zu wohnen. Grandma klagte ständig über irgendwelche Wehwehchen und Schmerzen, und sie war hoffnungslos altmodisch. Sie verstand es einfach nicht, was es mit Quinns Haaren, ihrem Tagebuch oder dem Bedürfnis auf sich hatte, jeden Tag mehrere Stunden am Little Beach zu verbringen.
    Sie verstand es nicht, im Gegensatz zu Tante Dana – und Sam.
    Tante Dana und Sam – wenigstens ein Lichtblick. Während Quinn das Fenster anstarrte und über die Zukunft nachgrübelte, schreckte sie plötzlich hoch, als die beiden alten Damen vor ihr standen, von der Fensteröffnung eingerahmt.
    »Oh, mein Gott«, japste Grandma und griff sich an den Hals.
    »Ich hab’s dir ja gesagt, Martha. Ich habe eine Säge gehört.« Annabelle legte die Stirn in Falten, als wollte sie mit der Nase die Kinnspitze berühren.
    »Quinn, was hast du getan?«
    »Gesägt«, sagte Annabelle und schüttelte fassungslos den Kopf. »Gesägt, gesägt, gesägt. Und Marnie wollte mir einreden, es sei eine Krähe. Ist aber keine, habe ich ihr gesagt. Ich weiß, wie sich eine Krähe anhört, und das klingt mir nicht danach. War ja auch keine, wie man sieht.«
    »Quinn?« Grandmas blaue Augen waren in Tränen gebadet, wie immer, wenn eine ihrer Enkelinnen – in der Regel Quinn – sie zutiefst enttäuscht hatte.
    »Das ist ein Nordfenster für Tante Dana«, sagte Quinn.
    »Wie kannst du nur, Quinn«, sagte die alte Annabelle entrüstet, wobei ihr Südstaatenakzent mit jeder Minute schleppender wurde. »Dein Vater hat den Schuppen gebaut, und er hat eine Menge von seinem Handwerk verstanden.«
    »Ich weiß.«
    »Glaubst du nicht, dass dein Daddy ein Fenster eingebaut hätte, wenn dort eines hingehört hätte?«
    »Du hättest mich vorher fragen sollen«, meinte Grandma nachsichtig.
    »Ich habe nur versucht zu helfen!«
    »Hilfe nennst du das? Das ist der beste Weg, den Schuppen zum Einsturz zu bringen«, schalt Annabelle.
    »Sie hat Recht, Quinn. Was ist, wenn du einen Stützbalken durchgesägt hast? Das Bild deiner Tante könnte unter den Trümmern begraben werden, bevor es auch nur halbwegs fertig ist.«
    »Menschen können dabei zu Tode kommen, Herzchen. Von den Bildern ganz zu schweigen.«
    »Ich habe aber keinen Stützbalken durchgesägt«, murmelte Quinn mit zusammengebissenen Zähnen. So viel hatte sie von ihrem Vater gelernt. Sie wusste alles über Stützbalken und tragende Wände, sie wusste, dass sie die Ursache des Problems waren, des schrecklichen Streits, der furchtbaren Worte ihrer Mutter. Die Erinnerung schlug wie eine Welle über ihr zusammen, und sie fühlte sich am Boden zerstört, als ihr nun die Folgen klar wurden.
    Menschen hätten in dem Gebäude, für das ihr Vater Geld genommen hatte, zu Tode kommen können. Es war nichts passiert, aber es
hätte
etwas passieren können.
    »Also, schnell heraus da, bevor der Schuppen zusammenbricht«, sagte Grandma.
    »Ruf Paul Nichols an«, empfahl Annabelle. »Er kann die Wand durch Strebepfeiler stützen, und du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Obwohl er Preise hat, bei denen einem Hören und Sehen vergeht.«
    »Dann müssen wir eben noch ein paar Mal Hotdogs verkaufen, um unsere Schulden abzustottern.« Grandma fing an zu lachen, aber Quinn stimmte nicht mit ein. Sie musste weg, so schnell wie möglich; der Weg war weit. Aber sie wusste genau, wie sie hinkommen und was sie mitnehmen würde.

[home]
    21
    A n diesem Sommerabend herrschte am Springbrunnen des Lincoln Center eine festliche, lebendige Atmosphäre. Die Leute schlenderten Arm in Arm über den Platz. Ein leichter Wind verwehte das Wasser, und ein feiner Sprühnebel kühlte Danas Gesicht und

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