Schilf im Sommerwind
Arme. Lichter flammten in den umliegenden Wohngebäuden auf; dahinter erschienen die ersten hellen Sterne am lilafarbenen Himmel.
Sie hatte ihre Mutter angerufen, um sich nach den Mädchen zu erkundigen. »Es geht ihnen gut«, lautete die Auskunft. »Eine kleine Unstimmigkeit mit Quinn, aber nichts Ernstes. Sie ist jetzt am Little Beach.«
»Was für eine Unstimmigkeit?«
»Ach Liebes. Mach dir keine Sorgen. Ich erzähle es dir, wenn du zurück bist. Amüsier dich gut; wir sehen uns morgen.«
Dana hatte erleichtert aufgelegt. Eine Unstimmigkeit mit Quinn war völlig normal; sie hätte sich Sorgen gemacht, wenn es anders gewesen wäre. Da sie heute Abend frei wie ein Vogel war, fühlte sie sich zu allen Schandtaten bereit.
Sie sah Sam schon von weitem kommen. Als sie sich auf den Rand des Springbrunnens setzte, klopfte ihr Herz. Groß und attraktiv, konnte sie selbst aus der Ferne das Leuchten in seinen goldgrünen Augen erkennen. Zum ersten Mal in diesem Sommer wurde ihr bewusst, dass er den größten Teil seines Urlaubs geopfert hatte, um den Mädchen und ihr zu helfen. Der Gedanke traf sie und erzeugte eine gespannte Erwartung.
»Du hast unsere Verabredung nicht vergessen!«, rief er.
»Dachtest du, ich würde?« Sie lächelte. Verlegen standen sie sich einen Moment lang gegenüber. Doch dann erinnerte sich Dana an Vickie und begrüßte Sam mit einem Dreifach-Kuss: rechte Wange, linke Wange, und zum Schluss noch einmal rechte Wange. Beim dritten Mal passte er sie ab und küsste sie auf den Mund. Ein kurzer Kuss, bei dem er die Arme um ihre Schultern legte und der einen Schauer der Erregung in ihr auslöste.
»Du siehst toll aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Danke. Das Kompliment kann ich zurückgeben.«
»Ich wollte mich zur Abwechslung mal mit dir an einem Ort treffen, an dem wir uns die Füße nicht sandig machen.«
»Eine gute Wahl.« Dana blickte sich lachend um. Das Rauschen des Springbrunnens hallte in ihren Ohren wider, und sie dachte an London, an Rom. »Man kommt sich vor wie in Europa. Bei einem dieser wunderbaren Open-Air-Konzerte.«
»Das trifft sich ausgezeichnet.« Er zog zwei Eintrittskarten aus der Tasche seines Jacketts. »Wir besuchen nämlich ein Konzert. Mozart.«
»Mein Lieblingskomponist.«
Sam nickte. »Das dachte ich mir schon. Du hörst ihn in Hubbard’s Points so oft, dass ich nicht widerstehen konnte, als ich die Ankündigung in der Zeitung las.«
»Sam …«, sagte Dana, tief bewegt von seiner Aufmerksamkeit. Er gab ihr keine Gelegenheit, sich abermals bei ihm zu bedanken. Er nahm ihre Hand, und gemeinsam gingen sie über die Plaza, vorbei an der Met mit ihrer imposanten Vorhalle, in der die riesigen Gemälde von Marc Chagall aufragten, zum Amphitheater, das sich dahinter befand.
Sie saßen mitten in New York unter dem Sternenhimmel und hörten ›Eine kleine Nachtmusik‹. Sam hielt Danas Hand, und sie wünschte sich, er möge sie nie mehr loslassen. Sie war tief berührt von der Musik und von der Tatsache, dass Sam ihre Liebe zu Mozart bemerkt und ihr diese Überraschung bereitet hatte.
Die zarten Klänge der Saiteninstrumente gingen ihr zu Herzen. Sie hatte das Gefühl, sich in ihrem Rhythmus auf und ab zu wiegen wie eine Meerjungfrau, die bei spiegelglatter See durch die Wogen gleitet. Sie hielt die ganze Zeit Sams Hand, was seltsam und ungewohnt war, denn ihre Hände waren ein Instrument, ein Mittel, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen; sie brauchte sie, um mit ihnen zu malen, ihre Farben anzumischen, die Leinwand zu bearbeiten.
Wenn sie mit anderen Männern in einem Konzert gesessen hatte, war sie immer in Bewegung gewesen. Sobald jemand versuchte, ihre Hand zu halten, zog sie sie zurück. Sie gestikulierte, schlug den Takt, malte imaginäre Szenen von den Gefühlen, die eine Melodie in ihr hervorrief.
Aber nicht heute Abend. Sie saß reglos da und hielt Sams Hand. Die Musik war spielerisch, heiter, doch unterschwellig nahm sie einen leise Melancholie wahr, die Trauer um vergangene Zeiten. Irgendetwas schwang in ihr mit, das sie an Quinn und Allie denken ließ, und sie sah an Sams Mienenspiel, dass es ihm nicht anders erging.
Seine Augen hatten die Farbe von Sommergras, und sie dachte daran, wie lange sie ihn bereits kannte. Sie erinnerte sich an diese Augen – voller Freude am ersten Segeltag, außer sich vor Angst an dem Tag, als sie ihn im Hafen von Newport vor dem Ertrinken gerettet hatte. Plötzlich spürte sie, wie die Welle der Zuneigung für den
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